Christian Ullmanns "Fakten über die andere Medizin" (Skeptiker 3/2006)

von Tobias Weber

 

Die von der Stiftung Warentest im September 2005 herausgegebene Neuauflage des Handbuchs „Die Andere Medizin" (DAM) wirbelte im alternativmedizinischen Bereich einigen Staub auf, verwarf sie doch einen Großteil der vorgestellten Methoden als unwissenschaftlich respektive in ihrer Wirkung nicht nachgewiesen. Besonders die Vertreter der Homöopathie mochten dies nicht auf sich sitzen lassen und konnten triumphierend vermelden, dass nach der Beantragung einer einstweiligen Verfügung durch die Deutsche Homöopathie-Union das Buch zunächst wieder zurückgezogen wurde. Allerdings betraf dies - was zumeist verschwiegen wurde - nur die erste Ausgabe der Neuauflage, inzwischen ist eine um die strittige Stelle bereinigte Fassung längst wieder erhältlich.

Der Grund für den Rechtsstreit war die Aussage, dass für das „Heuschnupfenmittel DHU" keine Wirksamkeitsnachweise vorliegen würden. Die DHU argumentierte, dass es sich um ein zugelassenes Arzneimittel handle und dies nur der Fall sei, wenn der für die Zulassung erforderliche Nachweis existiere. Dies ist zwar richtig, allerdings ist für die Mittel der so genannten „besonderen Therapierichtungen" nicht zwangsläufig ein Nachweis nach wissenschaftlichen Kriterien nötig wie für „normale" Medikamente, es genügt der „Binnenkonsens" der jeweiligen Therapierichtung. Auffällig ist zudem, dass weder die offizielle Pressemeldung der DHU noch die positiven Reaktionen auf die Rücknahme verraten, wie dieser Wirkungsnachweis denn erbracht wurde und wo er einsehbar ist.

Dies trifft auch auf "Fakten über die andere Medizin'" von Christian Ullmann (Foitzick Verlag, 1. Auflage 2006) zu. Das Buch dürfte die bislang aufwändigste Reaktion auf die Kritik der Stiftung Warentest an den alternativen Heilverfahren sein. Ullmann studierte Philosophie, Politik- und Zeitungswissenschaften sowie Wissenschaftstheorie, war über lange Jahre Redakteur der Süddeutschen Zeitung und arbeitet an Büchern über die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) sowie die rechtliche Stellung des Heilpraktikers mit. Eine medizinische Ausbildung hat er nicht genossen, was nur erwähnt werden soll, weil er gleich zu Beginn seines Buches recht süffisant die Autorinnen von DAM, Krista Federspiel und Vera Herbst, als „Enthüllungsjournalistinnen"1 bzw. "Germanistin" und "Apothekerin" bezeichnet2.

Interessanter als eine Detaildiskussion über die angeblichen Fehler, welche Ullmann DAM attestiert, und die vielen Einzelbeispiele, die er zusammengetragen hat, ist ein Blick auf die Anlage des Buches bzw. die Argumentationsstruktur. Hier wird deutlich, dass eine ausführliche Auseinandersetzung mit den einzelnen Therapien und den sie aus Ullmanns Sicht unterstützenden Belegen nicht nur den Rahmen dieses Beitrages sprengen würde, sondern vor allem auch wenig sinnvoll wäre.

Das Grundanliegen des Buches wird sehr schnell klar, es handelt sich um eine Apologie alternativmedizinischer Therapierichtungen, die Ullmann von bornierten und dogmatischen Vertretern der westlichen Medizin zu Unrecht angegriffen sieht3. Damit verwendet er schon die erste der beiden von Verfechtern pseudowissenschaftlicher Theorien hauptsächlich genutzten Erklärungen für die Ablehnung ihrer Konstrukte durch die Fachleute: Letztere seien im Grunde einfach nicht ausreichend informiert oder durch einseitige Ausbildung nicht offen für neue Konzepte. Dies allein ist jedoch auf die Dauer nicht überzeugend und wird üblicherweise ergänzt von verschwörungstheoretischen Ansätzen unterschiedlicher Schattierung. Auch Ullmann bietet dieses Modell implizit an, indem er auf hinter der wissenschaftlichen Medizin stehende „Machtapparate" verweist, die bestimmte Untersuchungsergebnisse verlangen4. Wer den alternativen Heilmethoden die fehlende Wissenschaftlichkeit vorwirft, ist aus Ullmanns Sicht ein Lügner, dem es in Wahrheit nur um materielle Vorteile, nämlich die Erstattung von Behandlungen aus den Budgets der Krankenkassen geht5.

Noch deutlicher herausgearbeitet ist allerdings eine weitere Argumentationslinie, die jede Kritik an Ullmanns Erklärungen unmöglich macht. Grundlage dieser Immunisierung ist der Versuch Ullmanns, den Anspruch der konventionellen Medizin auf Wissenschaftlichkeit zu relativieren, indem er die von ihm verteidigten Konzepte als in diesem Zusammenhang gleichwertig darstellt. Dabei bezieht er sich auf die wissenschaftstheoretischen Überlegungen Thomas S. Kuhns6. Dieser betrachtete neben den innerhalb der Wissenschaft stattfindenden Wechseln zwischen Phasen der Normalwissenschaft und wissenschaftlichen Revolutionen die Akzeptanz eines „Paradigmas" innerhalb einer scientific community als wichtigstes Merkmal einer wissenschaftlichen Theorie. Ein Paradigma wäre laut Ullmann „ein in sich schlüssiges System"7, demnach wären alle derartigen Systeme wissenschaftlich. So allgemein hat Kuhn dies allerdings nicht formuliert. Vielmehr verstand er darunter zunächst8 eine wissenschaftliche Leistung, die als Musterlösung für eine Gemeinschaft von Wissenschaftlern und gleichzeitig als Leitfaden für weitere Forschungen dient. Sonst wäre die Konsequenz, dass es überhaupt keine pseudowissenschaftlichen Konzepte mehr gäbe, da diese alle in sich geschlossen sind. Dies läuft jedoch Kuhns Ansichten zu Astrologie, Marxismus und Psychoanalyse9 zuwider, denen er sehr wohl den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit absprach. Kuhn arbeitete hingegen in späteren Werken vier Kriterien heraus, die eine Naturwissenschaft erfüllen müsse. Besonders wichtig sind hierbei die Notwendigkeit, für bestimmte natürliche Phänomene konkrete Voraussagen zu treffen, und die ständige Verbesserung der Vorhersagetechnik.10

Paradigma

Seit Thomas Kuhn (1922-1996) in seinem erstmals 1962 erschienenen Buch „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" das Wort Paradigma in die Wissenschaftstheorie eingeführt hat (Kuhn 1979), ist es geradezu zu einem Modewort geworden. Unter Wissenschaftlern dürfte es neben dem Wort „Falsifizierbarkeit" eines der bekanntesten Fachwörter aus dem Bereich der Wissenschaftstheorie sein. Die Frage ist nur: Was genau ist ein Paradigma?

Leider ist die Antwort auf diese Frage keineswegs klar. Kuhn ist in seinem Klassiker nämlich das passiert, was auch vielen anderen Autoren passiert: Man definiert irgendwo einen Begriff - und bereits wenige Seiten später verlässt man diese Definition, um dasselbe Wort in einer ganz anderen Bedeutung zu verwenden. So hat Margaret Masterman festgestellt, dass Kuhn in seinem Buch das Wort „Paradigma" in 21 verschiedenen, wenn auch teilweise verwandten Bedeutungen gebraucht hat (Masterman 1974). Kuhn hat daraufhin versucht, den Paradigmabegriff zunächst in einem Postskriptum zu klären, das ab 1969 neueren Auflagen seines Buches hinzugefügt wurde, sowie nochmals ausführlicher in einer späteren Arbeit (Kuhn 1978).

Als Ergebnis dieser neueren Überlegungen wollte er zwei Hauptbedeutungen von „Paradigma" unterschieden wissen. Zum einen ging es ihm um das, was die Mitglieder einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, wie etwa die Gruppe der Quantenphysiker oder die der Pflanzenphysiologen, untereinander verbindet: Gemeinsame Grundannahmen, Begrifflichkeiten, Modelle, Theorien, Ansätze und Methoden, die bestimmen, was in dieser Disziplin als gute Wissenschaft und Erklärung gilt. Kuhn bezeichnete dies nun als disziplinäre Matrix.

Zum anderen verband er mit „Paradigma" etwas weniger Umfangreiches, nämlich eine konkrete Problemlösung, die in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft als vorbildlich anerkannt wird. Eine solche vorbildliche Problemlösung bezeichnete er später als Musterbeispiel (engl.: exemplar). So wie Studenten lernen müssten, Lehrbuchbeispiele auf andere Situationen zu übertragen, d.h. einen neuen Sachverhalt als zur gleichen Problemklasse gehörig zu erkennen wie einen bereits bekannten, wenn sie die Übungen am Ende eines Lehrbuchkapitels erfolgreich durchführen wollen, würden letztlich auch Wissenschaftler mit einer Menge von Musterbeispielen arbeiten statt mit einem strengen Regelwerk, das ihnen sagt, wie ein konkretes Problem zu lösen ist. Als Beispiele für solche (kleinen) Paradigmen nennt er unter anderem die schiefe Ebene oder das Pendel. Der Physiker müsse dann eben „sehen", dass ein bestimmtes neues Problem z.B. nach dem Schiefe-Ebene-Vorbild zu lösen ist und nicht nach einem anderen.

Wissenschaftliche Forschung, die sich innerhalb einer disziplinaren Matrix bewegt und auf eine gemeinsamen Menge von Musterbeispielen zurückgreift, betrachtete Kuhn als normale Wissenschaft. Treten darin Probleme auf, die sich mit den zur Verfügung stehenden Musterbeispielen nicht lösen lassen, so haben wir es mit einer Anomalie zu tun, die nach einem ganz neuen Musterbeispiel verlangt. Führt diese Krise letztlich dazu, dass sich die gesamte disziplinare Matrix ändert, so haben wir es schließlich mit einer wissenschaftlichen Revolution, einem Paradigmenwechsel, zu tun.

Wie spätere Untersuchungen gezeigt haben, ist jedoch das Revolutionäre an einem solchen Paradigmenwechsel oft eher wissenschaftssoziologischer denn ideengeschichtlicher Natur. So bestand etwa die Darwinsche Revolution darin, dass in relativ kurzer Zeit ein Umschwung zugunsten der Evolutionstheorie unter den Biologen stattfand, doch war der Evolutionsgedanke lange vorher in der Diskussion (Mayr 1984). Ähnliches gilt auch für Kuhns eigene Thesen, die manche als neues Paradigma der Wissenschaftsgeschichte betrachten. Gewiss haben Kuhns Ideen viel Diskussion bei Wissenschaftshistorikern, -theoretikern und -soziologen ausgelöst und neue Richtungen und Schulen hervorgebracht. Aber auch Kuhns Thesen haben ihre Vorläufer. So hat etwa der polnische Bakteriologe Ludwik Fleck bereits 1935 ein wissenschaftssoziologisches Buch über Denkkollektive und deren Denkstile publiziert (Fleck 1993). Und wenige Jahre später (1938) hat der französische Physiker und Wissenschaftstheoretiker Gaston Bachelard schon von ruptures epistemologiques gesprochen (Bachelard 1994).

Was bleibt also vom Paradigma? Wir müssen wohl damit leben, dass das Wort „Paradigma" für unterschiedliche und zudem unscharfe Begriffe steht. Da sich im allgemeinen Verständnis vor allem der Paradigmabegriff im Sinne der disziplinaren Matrix eingebürgert hat, weil nur er es erlaubt, von Paradigmenwechsel im Sinne wissenschaftlicher Revolutionen zu sprechen, empfiehlt es sich, „Paradigma" auch in diesem Sinne zu verwenden. Jeder andere Gebrauch des Wortes führt leicht zur Begriffsinflation, sodass allein neue Hypothesen oder Methoden schon gleich als neue Paradigmen ausgegeben werden (Mahner 1999). Angesichts dieser begrifflichen Unscharfen empfiehlt es sich jedenfalls, Skepsis walten zu lassen, wenn jemand ein neues Paradigma oder gar einen Paradigmenwechsel verkündet.

Martin Mahner

Literatur

Bachelard, G. (1984): Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Suhrkamp, Frankfurt.
Fleck, L. (1993): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Suhrkamp, Frankfurt.
Kuhn, T. S. (1978): Neue Überlegungen zum Begriff des Paradigma. In: Die Entstehung des Neuen. Suhrkamp, Frankfurt.
Kuhn, T. S. (1979): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Suhrkamp, Frankfurt.
Mahner, M. (1999): Inflation wissenschaftlicher Paradigmen? Naturwissenschaftliche Rundschau 52(9): 376.
Masterman, M. (1974): Die Natur eines Paradigmas. In: Lakatos, I.; Musgrave, A. (Hrsg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt. Vieweg, Braunschweig.
Mayr, E. (1984): Die Entwicklung der biologischen Gedankenweit. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg.

Eine ältere Version dieses Beitrags erschien erstmals als Stichwort in der Zeitschrift Naturwissenschaftliche Rundschau 54(1), 2001, 54.

Nach Kuhn sind die verschiedenen, in der Phase der wissenschaftlichen Revolutionen einander ablösenden Paradigmen inkommensurabel. Diesen Begriff entlehnt Kuhn, ähnlich wie den des ursprünglich aus der Linguistik stammenden Paradigmas, aus der Mathematik. Inkommensurabel sind beispielsweise zwei ganze Zahlen, die nicht als Vielfache einer dritten ganzen Zahl darstellbar bzw. nicht durch die gleiche Zahl teilbar sind. Fehlen bestimmten Stoffen gemeinsame Eigenschaften, was einen Vergleich von Messwerten verhindert, wird dies in der Physik ebenfalls als Inkommensurabilität bezeichnet. Kuhn bezeichnet analog die Unvereinbarkeit der Sichtweisen innerhalb aufeinanderfolgender Paradigmen als Inkommensurabilität. Diese erstreckt sich beispielsweise auf Methodik und Festlegungen von Größen und Begriffen. Im Gegensatz zur exakt definierbaren Inkommensurabilität in Mathematik und Physik ist ihre Übertragung in die wesentlich schwieriger fassbaren Gebiete der Wissenschaftstheorie bzw. -geschichte allerdings bereits grundsätzlich problematisch. Nicht zufällig setzen an diesem Punkt viele Kritiker Kuhns an. Zum einen bemängeln sie, der Begriff sei zu unpräzise. Und: Bei komplett inkommensurablen Paradigmen ist gar kein Vergleich und somit strenggenommen auch keine Ablösung des alten durch das neue Paradigma im Rahmen der wissenschaftlichen Revolutionen möglich.11

Prägnantestes Beispiel für den berühmten Paradigmenwechsel ist die Ablösung der Newton'schen Physik durch die Relativitätstheorie. Ullmann postuliert nun, dass die verschiedenen alternativen Modelle und die konventionelle Medizin ebenfalls inkommensurabel seien. Die Forderung, erstere sollten ihre Wirksamkeit nach den Standards letzterer beweisen, sei deshalb nicht nur unehrlich, sondern wissenschaftstheoretisch unsinnig.12 Die Unvereinbarkeit nach Kuhn offenbart sich gerade in der Phase der wissenschaftlichen Revolution, bevor das neue Paradigma das alte ersetzt. Ullmann möchte allerdings die konventionelle Medizin nicht komplett ersetzen, sondern verlangt, dass die von ihm ausgemachten Paradigmen (Traditionelle Chinesische Medizin, Homöopathie, Humoralpathologie, konventionelle Medizin u.a.) gleichzeitig bestehen und sich ergänzen sollen.13 Mit Kuhns Wissenschaftstheorie hat dies allerdings nicht mehr viel zu tun - abgesehen vom Namedropping und der Verwendung der beiden Begriffe Paradigma und Inkommensurabilität . Ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Paradigmen innerhalb eines bestimmten Wissenschaftszweiges ist das genaue Gegenteil von Kuhns Darstellungen der Entwicklung der Wissenschaftsgeschichte.14

Der eigentliche Grund, warum Ullmann diese Dinge ausführt, ist bereits angeklungen und führt zu einer zentralen Aussage des Buches: Alternativmedizinische Konzepte brauchen keine Nachweise ihrer Wirksamkeit zu führen, wie sie in den Naturwissenschaften üblich sind, im medizinischen Bereich idealerweise durch randomisierte, placebokontrollierte Doppelblindstudien. Letztere bezeichnet Ullmann pauschal als wissenschaftstheoretisch anfechtbar, empirisch unsicher sowie ethisch fragwürdig.15 Er begründet oder belegt das in keiner Weise. Trotzdem argumentiert er in späteren Bezugnahmen auf diese Studien, als hätte er es getan bzw. als sei ihre Unwissenschaftlichkeit längst erwiesen: „Schließlich muss der Hinweis angebracht werden, dass Feststellungen von Krankheiten (...) und den Prinzipien, nach denen Krankheiten entstehen und sich entwickeln, nicht nach den Konstruktionen von randomisierten, kontrollierten Doppelblindstudien beurteilt werden, sondern mit solider Forschung ermittelt werden müssen."16 Wodurch sich diese solide Forschung auszeichnet und mit welchen Methoden sie ihre Erkenntnisse gewinnt und auswertet, erfährt der Leser allerdings nicht.

Aber Ullmann geht sogar noch einen entscheidenden Schritt weiter und behauptet, dass die Alternativmedizin nicht nur den Anforderungen dieser Studien nicht entsprechen muss, sondern es nicht einmal darf! Andernfalls würde sie in die konventionelle Medizin integriert und aufhören als eigenständiges System zu existieren. Wenn also beispielsweise die TCM nicht den wissenschaftlichen Ansprüchen genüge, sei das nicht negativ, sondern im Gegenteil Beleg dafür, dass sie „allen derartigen Integrationsversuchen - um nicht zu sagen Eliminationsversuchen - bisher hartnäckig widerstanden" habe.17 Dem gegenüber steht dann allerdings die Aussage: „die Beispiele, wonach die Anwendung von komplementären (...) Heilverfahren (...) auch nach Kriterien der wissenschaftlichen Medizin das Mittel der Wahl ist, ließen sich beliebig fortsetzen."18

Hier offenbart sich ein grundlegender Widerspruch innerhalb Ullmanns Argumentation, denn wenn er die erste Einschätzung tatsächlich ernst meinen würde, hätte er an dieser Stelle sein Buch beenden und sich zudem über die Urteile der Stiftung Warentest sehr erfreut zeigen müssen. Diese war ja gerade zu dem Schluss gekommen, dass die „andere Medizin" zum größten Teil nicht den Kategorien der wissenschaftlichen Medizin entspricht. Aber in Wahrheit geht es darum, die Alternativmedizin vor jeglicher Kritik abzuschirmen. Letztlich werden mit dem Verweis auf die angebliche Inkommensurabilität solche Studien ignoriert, die für das jeweilige Modell negative Ergebnisse zeigen bzw. positive vermissen lassen. Gleichzeitig bemüht sich Ullmann aber bei seiner Vorstellung der angeblich falsch beurteilten Konzepte im weiteren Verlauf seines Buches beständig darum, gerade solche Studien vorzuweisen, die den üblichen Kriterien entsprechen.19 Er widmet den wissenschaftlichen Veröffentlichungen sogar einen jeweils eigenen Abschnitt und hebt besonders hervor, wenn es sich um eine kontrollierte Doppelblindstudie handelt. Zwar sollen alle Heilsysteme ihre Leistungsfähigkeit und Rationalität durch Prognosen auf zu erwartenden Heilerfolg nachweisen20, allerdings wird nirgendwo ausgeführt, welche Alternativen zu den Doppelblindstudien existieren und wie der Heilerfolg innerhalb der alternativen Konzepte überhaupt gemessen oder belegt wird. Oder, was wesentlicher ist, wie man überhaupt andere als sie bestätigende Resultate erreichen kann.

Das Ergebnis dieser Überlegungen ist völlige Beliebigkeit, die den Verteidiger der alternativen Medizin in die komfortable Lage versetzt, jeden positiven Verweis als Beleg für die Richtigkeit des Konzeptes zu werten und alle negativen komplett zu ignorieren.21 Methoden, um beides zu korrelieren oder die Aussagekraft unterschiedlicher Belege kritisch zu betrachten, werden nirgendwo thematisiert. Im Grunde ist dies eine logische Folge der Voraussetzungen, auf denen die meisten alternativmedizinischen Konstrukte beruhen. Es handelt sich in der Regel um irrationale Elemente, die sich per se nicht definieren lassen und von denen keine exakten Eigenschaften bekannt sind. Andernfalls wären Überprüfungen grundsätzlich möglich, auf die von der Homöopathie behauptete Lebenskraft sind wissenschaftliche Grundverfahren allerdings ebenso wenig anwendbar wie auf Yin und Yang, frühere Leben oder das fliegende Spaghettimonster.

Die Stärke dieser Konzepte liegt in der Retrospektive. Prognosen werden zwar aufgestellt, falls sie jedoch nicht eintreffen, kann man dem irrationalen Element genau die Eigenschaft zuweisen, die man benötigt, um dieses Ergebnis doch wieder innerhalb des Konstruktes erklären zu können. Falsifizierungen sind damit nicht möglich, wissenschaftliche Revolutionen, wie sie Kuhns Theorie als elementaren Bestandteil der Wissenschaft vorsieht, im Übrigen ebenfalls nicht. Gerade das Alter (am besten Jahrtausende) und die unveränderten Grundlagen sind bei Ullmann vielmehr positive Werte, ebenso die Akzeptanz und Identifikation vieler Menschen mit einem System, etwa der TCM.22 Zumeist werden die Therapiekonzepte einfach referiert, Ullmann verzichtet komplett darauf, die eigentlichen Kritikpunkte überhaupt aufzuführen und wirft stattdessen u.a. den Homöopathiegegnern vor, dass deren Überzeugungen gegen Widerlegungen immun seien.23 Das wirkt angesichts seiner bisher beschriebenen Argumentationsweise unfreiwillig komisch. Auch vor unzutreffenden Verallgemeinerungen schreckt Ullmann nicht zurück. Aus der Tatsache, dass sich bestimmte Krankheiten tatsächlich auch auf das Auge und die Netzhaut auswirken und dort diagnostiziert werden können,24 schließt er auf die Richtigkeit der Irisdiagnostik - die zu diesen Erkenntnissen indes nichts beigetragen hat. Die eigentlich von DAM kritisierte Behauptung, dass sich auf der Iris wie auf einer Art Landkarte (von der auch noch verschiedene Ausführungen existieren) alle möglichen Körperorgane inklusive krankhafter Veränderungen abbilden, lässt er dabei wiederum unerwähnt.

Es ist fraglos möglich, dass Ullmann in seinem Buch einzelne Irrtümer oder falsche Zuordnungen, die den Autoren von DAM unterlaufen sein mögen, zu Recht kritisiert. Nichtsdestotrotz ist die Gesamtanlage seiner Darstellungen so gewählt, dass die üblichen Kriterien für die Wirksamkeit einer Therapie ohne Begründung als falsch deklariert werden, ohne an ihre Stelle neue, bessere und für die jeweilige Theorie aussagefähigere zu setzen. Das hindert den Autor allerdings nicht daran, trotzdem die gerade abgelehnten Maßstäbe zu verwenden - vorausgesetzt, ihre Ergebnisse bestätigen scheinbar die bereits feststehende Ansicht. Dadurch wird eine kritische Auseinandersetzung über Quantität und Qualität der Belege für oder gegen Alternativmedizin, also eine inhaltliche Wertung des Buches der Stiftung Warentest und Ullmanns Werk per se, unmöglich.

Ebenso fragwürdig ist der ständige Ruf nach Rationalität, wenn Ullmann gleichzeitig mehrere, sich in Ursachenbenennung, Diagnostik und Therapie ausschließende Verfahren als richtig und gleichwertig verteidigt. Derart eklatante Logikbrüche durchziehen das gesamte Werk. Es fehlt jegliche Systematik zur Entscheidung, was und wer einen Patienten tatsächlich geheilt hat. Das Resultat sind Aussagen, die schwerlich als rational, sondern vielmehr in erster Linie als ideologisch gefärbt bezeichnen werden können.

Die „Ganzheitlichkeit", die Ullmann durch den Rückgriff auf Kuhn aus der angeblichen Gleichwertigkeit der Konzepte zu kreieren versucht, würde im Rahmen einer „ganzheitlichen" Astronomie bedeuten, dass sowohl die Sonne als auch die Erde im Mittelpunkt des Sonnensystems steht und letztere gleichzeitig eine Kugel und eine Scheibe ist, die zudem auf dem Rücken einer Schildkröte ruht.

 

Tobias Weber hat nach einer Ausbildung zum Musikalienhändler die Magisterstudiengänge Neuere und Neueste Geschichte, Geschichte des Mittelalters sowie Musikwissenschaft an der TU Chemnitz absolviert. Zurzeit arbeitet er im Rahmen eines Projektes im Staatsarchiv Chemnitz.

 

Dieser Artikel erschien im "Skeptiker" 3/2006.

1   Ullmann 2006, S. 21.
2   Ullmann 2006, S. 50 Auch die Charakterisierung des Schlussgutachters Edzard Ernst, Inhaber des Lehrstuhls für Complementary Medicine an der Universität Exeter, spricht Bände. Ullmann bezeichnet ihn als „...manisch vielschreibenden (...) Professor (...), von dem sich wirklich kein rational entscheidender Mensch behandeln lassen möchte, selbst gegen Bagatellen".
3   Ullmann 2006, S. 47.
4   Ullmann 2006, S. 47 Fußnote 12.
5   Ullmann 2006, S. 47.
6   Ullmann 2006 S. 46.
7   Ullmann 2006, S. 46.
8   Der Begriff „Paradigma" wurde von Kuhn in unterschiedlichen Zusammenhängen gebraucht, diese Unscharfe führte auch immer wieder zu Kritik: „Paradigm was a perfectly good word, until I messed it up" (zitiert nach Rose 2004). Später verzichtete er bezeichnenderweise weitgehend auf den von ihm popularisierten Begriff.
9   Rose 2004, S. 152 ff.
10   Rose 2004, S. 153. Speziell die erste Forderung konkreter Vorhersagen kollidieren mit der auf Seiten der alternativen Medizin verbreiteten Ablehnung von Studien.
11   Rose 2004, S. 213 ff.
12   Ullmann 2006, S. 47.
13   Ullmann 2006, S. 47.
14   Auch beim Thema Humoralpathologie sieht man den - vorsichtig gesagt - sehr freien Umgang Ullmanns mit Kuhns Theorie. Er bezeichnet sie zwar als verdrängtes (wohlgemerkt nicht: überholtes) Paradigma. Dennoch widmet er ihr ein eigenes Kapitel und verweist darauf, dass sie heute noch praktiziert wird und teilweise in andere Verfahren integriert wurde (Ullmann 2006, S. 146 ff.).
15   Ullmann 2006, S. 146.
16   Ullmann 2006, S. 170. Siehe auch u.a. S. 96.
17   Ullmann 2006, S. 48.
18   Ullmann 2006, S. 44.
19   Beispielsweise zur anthroposophischen Medizin (S. 87 ff.), der Aromatherapie (S. 95), der Geistheilung (S. 125 ff.).
20   Ullmann 2006, S. 48.
21   Im Zweifelsfall existieren auch noch andere Begründungen, falls eine Studie keinen positiven Effekt zeigt, wie beispielsweise die Behauptung, dass die daran teilnehmenden Personen (hier: Irisdiagnostiker) einfach nicht genügend Berufserfahrung besäßen (Ullmann 2006, S. 60).
22   Ullmann 2006, S. 210.
23   Ullmann 2006, S. 143. Auch die Entwicklung der homöopathischen Komplexmittel wird lediglich vermerkt, auf die Widersprüche zu Hahnemanns „klassischen" Konzepten geht der Autor nicht ein.
24   Beispielsweise in Zusammenhang mit einer HIV-Infektion, http://hivinsite.ucsf.edu/InSite?page=kb-00&doc=kb-04-01-12 (HIV InSite Knowledge Base Chapter, Ophthalmic Manifestations of HIV, )

Literatur:

Federspiel, K.; Herbst, V. (2005): Handbuch Die Andere Medizin. „Alternative" Heilmethoden für Sie bewertet. Stiftung Warentest, Berlin.
Rose, U. (2004): Thomas S. Kuhn: Verständnis und Missverständnis: Zur Geschichte seiner Rezeption. Univ. Dissertation, Göttingen 2004, http://webdoc.sub.gwdg.de/diss/2004/rose/rose.pdf, Zugriff am 30.9.06.
Ullmann, C. (2006): Fakten über die „andere Medizin". Zur Kritik der Stiftung Warentest an den komplementären und alternativen Heilverfahren (CAM). Foitzick Verlag, Augsburg.