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Offenbar werden viele ADHS-Diagnosen vorschnell gefällt. Eine aktuelle Untersuchung weckt neue Zweifel an deren Aussagekraft.

Bereits vor zwei Jahren haben amerikanische Wissenschaftler Zweifel an vielen Diagnosen zum ,,Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom" geäußert, weil die Krankheit sehr häufig vorschnell diagnostiziert wird. Einer Meldung des ,,Deutschen Ärzteblatts" zufolge wurde in Deutschland eine Steigerung von beinahe vierhundert Prozent im Zeitraum von 1989-2001 registriert, die Zahl der Verschreibungen von Medikamenten  stieg in den Jahren 1993-2003 um das Neunfache, bei steigenden Dosen. Nun geben Untersuchungen der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Basel der Debatte neue Nahrung. Forscher der beiden Universitäten kommen  zu dem Schluss, dass die Krankheit viel zu oft diagnostiziert wird. Die Wissenschaftler hatten 1000 Kinder- und Jugendpsychotherapeuten angeschrieben und ihnen vier Fallgeschichten vorgelegt mit der Bitte, hierzu eine Diagnose zu stellen und eine Therapie zu empfehlen. 473 der Therapeuten antworteten. Der Haken an der Sache: Nach den gängigen Diagnosekriterien lag in drei der vier genannten Fälle kein ADHS vor. Trotzdem diagnostizierten die Fachleute auch hier häufig die Störung. Interessant ist auch, dass bei gleichen Symptomen (mangelnde Konzentration, motorische Unruhe) doppelt so häufig bei Jungen als bei Mädchen ADHS angenommen wird. Auch diagnostizieren Männer die Störung häufiger als Frauen. Nach Ansicht der deutschen und Schweizer Forscher wenden viele Menschen bei ihrer Urteilsbildung Faustregeln an, was bei Diagnosesituationen wie in den geschilderten Fällen zu Fehlentscheidungen führen kann (und, im Falle von ADHS, zur unnötigen Verabreichung von Medikamenten). Um dies zu verhindern, müssten sich die Therapeuten klar an diagnostischen Kriterien mithilfe von standardisierten Befragungsinstrumenten orientieren.  

Bei Auswertung der amerikanischen Studien vor zwei Jahren hatte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Alter der Kinder und der Diagnose gezeigt. Ganz offensichtlich wurde hier schlicht kindliche Unreife fälschlicherweise zu einer Aufmerksamkeitsstörung umgedeutet.  Es bleibt zu hoffen, dass sich die Forderung der Forscher nach einer kritischen Diagnostik durchsetzt.

Holger von Rybinski


Pressemitteilung der Ruhr-Universität Bochum vom 30.03.2012 mit Links zu den genannten Artikeln: