David Sieveking
Eingeimpft
Familie mit Nebenwirkungen
Verlag Herder, Freiburg 2018,
320 Seiten, € 22,–
Eine Rezension von Dr. Natalie Grams
Erscheint in SKEPTIKER 3/2018, erhältlich ab Mitte September
Betrachtet man im Buchhandel die Angebote zum Thema Impfen, so fällt sofort auf, dass die Sparte von impfkritischen Büchern dominiert ist. Man kommt daran praktisch nicht vorbei, und so werden ratsuchende Eltern zunehmend verunsichert statt informiert, was die Vorzüge von Impfungen als Schutz vor schweren Krankheiten ihrer Kinder betrifft. Der Blick ins Internet macht dies keineswegs besser. Ein Ratgeber, der junge Eltern sachlich und fundiert, aber auch mit einer persönlichen Ansprache zum Thema Impfen informiert, wäre also mehr als wünschenswert, und so habe ich „Eingeimpft“ geradezu erwartet. Doch das Buch enttäuscht auf der ganzen Linie. Zwar ist es durchaus gut und packend geschrieben, teils richtiggehend berührend mit seinen autobiografischen Zügen. Aber genau das macht letztlich das Kernproblem des Buches aus.
Das Buch ist in der Sparte Sachbuch erschienen, verzichtet aber leider genau auf die Sachlichkeit, die in dieser sowieso schon extrem emotionalisierten Debatte dringend nötig ist. Das zeigt sich schon am völligen Fehlen von Quellenangaben, was der Autor damit entschuldigt, dass er nie beabsichtigt habe, einen Ratgeber zu schreiben. Vielmehr sei das Buch allein als Autobiografie zu sehen. Ist er wirklich so naiv, anzunehmen, dass er sich so aus der Affäre ziehen kann? Zu glauben, er könne mit einem solchen lapidaren Hinweis die Verantwortung abwälzen, die mit einer solchen Veröffentlichung zwangsläufig verbunden ist?
Das Buch erscheint vorab zum gleichnamigen Dokumentar-Kinofilm, der schon jetzt breite Aufmerksamkeit findet. Er wurde immerhin auch von öffentlich-rechtlichen Sendern gefördert, was ihm einen Glaubwürdigkeitsbonus verschafft und insofern nicht ohne Wirkung bleiben wird. Auf „Wirkung“ ist auch im Buch durchgängig alles angelegt. Leider jedoch nicht in dem Sinne, dass über die Sinnhaftigkeit und Sicherheit und die soziale wie medizinische Bedeutung von Impfungen aufgeklärt wird, sondern insofern, als es altbekannte unsinnige Ängste (Aluminium! Chemie! Autismus!) schürt. Viele längst widerlegte und richtiggestellte Falschbehauptungen werden erhoben, aber nicht sachlich geklärt, sondern bedeutungsschwanger stehen gelassen.
Allein den Ängsten der Partnerin des Autors und Mutter der späteren gemeinsamen Kinder wird unendlich Raum gegeben. Der Autor selbst beschreibt zwar vermeintlich aufrichtig bemüht seine Suche nach den richtigen Antworten, doch letztlich ist und bleibt er medizinischer Laie, der vieles nicht bis zur notwendigen Tiefe durchdringt. Und auch wenn er im Vorwort des Buches jede Verantwortung von sich weist – er trägt sie bei diesem sensiblen Thema dennoch und erst recht. Sind das Leben und die Gesundheit von Kindern betroffen, kann niemand sich mit „Ich wollte einfach mal meine persönliche Geschichte aufschreiben“ herausreden. Das dürfte er auch genau wissen, denn weshalb sonst weist er ausdrücklich eben diese Verantwortung zurück? Dies gibt sehr zu denken.
Bitterer Beigeschmack
Einzelne Meinungen und Einschätzungen, wie die seiner Partnerin (einer bekannten Film-Musikkomponistin, die auch die Musik zum zugehörigen Film geschrieben hat), der Hebamme, der anthroposophischen Kinderärztin, eines Paul-Ehrlich-Instituts-„Aussteigers“, eines einzelnen Forschers in Afrika, über dessen Hypothesen die Wissenschaftsgemeinschaft gerade erst die Diskussion beginnt, zählen für Vater Sieveking mehr als der anerkannte Stand der Wissenschaft. So sät das Buch gewollt oder ungewollt Zweifel an Impfungen und idealisiert ein verzerrtes Konzept des individuellen Impfens jenseits des wissenschaftlichen Evidenzbegriffs. Mehr oder weniger folgerichtig entscheidet das Paar sich dann auch für eine bis drei unterschiedliche Impfungen für die beiden Töchter. Davon erwartet die Familie ein insgesamt besser trainiertes Immunsystem. Dass Herdenschutz wichtig ist für Kinder anderer Paare, die jedoch nicht geimpft werden können, kümmert die Eltern ebenso wenig wie der tatsächliche Krankheitsschutz für ihre Kinder – vor diesem primären Hintergrund muss die „selektive“ Impfentscheidung geradezu unsinnig erscheinen. Es bleibt ein mehr als bitterer Beigeschmack und das Gefühl, dass hier zwar persönliche Freiheitsrechte verteidigt werden, dies jedoch auf Kosten der Rationalität und im Falle des Impfens auf Kosten unser aller Gesundheit.
Da ich auch den Film vorab sehen konnte (der Mitte September in den deutschen Kinos anläuft), kann ich sagen, dass mir das Buch konzeptionell durchaus besser gefallen hat. Es kommt mit einer sympathischen Leseransprache daher und ist aus dem Elternalltag heraus geschrieben, es geht mehr ins Detail, berichtet genauer und in weiten Teilen auch gut verständlich und richtig. Doch der Subtext bleibt: Besser man verlässt sich auf sein Gefühl. Wer weiß denn schon, ob man den anerkannten Experten und der Studienlage vertrauen kann? Und ist es nicht insgesamt besser, ein Freidenker (im geschützten „Biotop“ Berlin Kreuzberg) zu sein, als sich vernünftiges Handeln von der Wissenschaftsgemeinschaft „einimpfen“ zu lassen? Letztlich bleibt das Buch ein Zeugnis westlichen Überlegenheitsgefühls, eines „Uns-geht’s-zu-gut“-Wohlstandsmaden-Gehabes, das angesichts des Blicks in weniger glückliche Weltgegenden wie Afrika oder Indien beschämen muss.