Amardeo Sarma
Um die Ergebnisse von Forschungsprogrammen hervorzuheben, beruft man sich häufig auf den wissenschaftlichen Konsens. In Sachen Klimawandel oder zur Sicherheit von Lebensmitteln, die mit Hilfe der grünen Gentechnik entwickelt wurden, gibt es sogar Stellungnahmen zahlreicher namhafter wissenschaftlicher Organisationen, die sich zum Stand der Wissenschaft positioniert haben, in den genannten Fällen unter anderen die renommierte und interdisziplinär agierende American Association for the Advancement
of Science (AAAS)1, 2, 3.
Andererseits sind Heterodoxien – also von der Mehrheit abweichende Meinungen – für die Weiterentwicklung und Fehlerkorrektur der Wissenschaft sehr hilfreich, vielleicht sogar notwendig. Selbst wenn sie sich in der Realität oft genug als falsch erweisen, können sie zur Korrektur und Verbesserung der „herrschenden Orthodoxie“ dienen. Der Physiker und Philosoph Gerhard Vollmer (1994) verteidigt nicht nur Heterodoxie, sondern geht noch einen entscheidenden Schritt weiter und schreibt: „Wenn es keine Pseudowissenschaften gäbe, müsste man sie erfinden.“
Dies ist natürlich aus rein wissenschaftsphilosophischer Sicht gesagt. Denn Pseudowissenschaften und Wissenschaftsleugnung können zu Entscheidungen führen, die erhebliche negative und gefährliche persönliche und gesellschaftliche Konsequenzen mit sich bringen. Deshalb gibt es schließlich Organisationen wie die GWUP, die sich um Aufklärung und Verbraucherschutz bemühen.
Wie gewichtig ist aber der wissenschaftliche Konsens? Einige tun ihn als Autoritätsargument ab. Und tatsächlich ist ein bloßer Konsens ein Autoritäts-und kein Sachargument. Konsens ist allgegenwärtig, er kommt in der katholischen Kirche ebenso vor wie in der Anthroposophie oder dem Stalinismus. Mit dem „Binnenkonsens“ der „besonderen Therapierichtungen“ räumt die deutsche Gesetzgebung höchst fragwürdigen pseudomedizinischen Verfahren eine geschützte Sonderrolle ein.
Mit dem Wahrheitsgehalt von Aussagen scheint Konsens also wenig zu tun zu haben. Der Konsens wird erst dann gewichtig bezogen auf Theorien und Aussagen, wenn es sich um einen wissenschaftlichen Konsens handelt. Dieser entsteht meist von selbst und benötigt in der Regel keine ausdrückliche Formulierung. Er ist das Resultat von langjähriger wissenschaftlicher Arbeit, unter anderem nach erfolgreicher Prüfung. Solche konsensfähigen Theorien besitzen Erklärungs- und Vorhersagekraft, haben dies in der Vergangenheit erfolgreich unter Beweis gestellt sowie der Kritik standgehalten.
Dieser Konsens wird aber dann konkret in Stellungnahmen, wie durch die AAAS kommuniziert, wenn die Öffentlichkeit diesen Konsens nicht erkennt und wenn wissenschaftliche Erkenntnisse in Frage gestellt werden. Bisweilen wird versucht, einen solchen Konsens in Prozentzahlen anzugeben, beispielsweise: „98 Prozent der Wissenschaftler vertreten die Ansicht, dass ...”. Es sind diese Stellungnahmen oder solche Angaben, die in der Öffentlichkeit stehen und von manchen auch kritisiert werden. Dabei muss man immer wieder klarstellen: Diese Art Konsens ist eine beispielhafte Verdeutlichung und eben keine Abstimmung. Den Konsens gab es bereits als Ergebnis des wissenschaftlichen Forschens, somit ist er keine bloße Übereinkunft unter Autoritäten.
Bei einem solchen Konsens erwarten wir, dass die handelnden Personen und Organisationen wissenschaftlich arbeiten. Wir erwarten zudem, dass sie ihre Theorien nicht aus außerwissenschaftlichen, z. B. religiösen oder politischen Gründen vertreten, und sie sich nicht aktuellen gesellschaftlichen Trends anbiedern. Es bleibt niemandem erspart,
in jedem Einzelfall zu prüfen, ob diese Erwartungen erfüllt worden sind und ob dieser Konsens auch tatsächlich wissenschaftlich ist.
Wie sollten wir mit Kritik am Konsens, d. h. mit Dissens oder Heterodoxie, umgehen? Betrachten wir einige Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart. Ein klassisches Beispiel für die Wandlung einer Heterodoxie in eine Orthodoxie ist Alfred Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung. Ein Beispiel für Kritik, die zur Weiterentwicklung eines Gebietes führte, ist die Debatte zwischen Einstein und Bohr zur Stellung der Quantenmechanik. Auch wenn man aus heutiger Sicht vereinfacht zusammenfassen könnte, dass Einsteins Einwände unberechtigt waren, trug seine Kritik erheblich zur Weiterentwicklung der Quantenmechanik bei.
Gerade die Auseinandersetzung mit der Kritik machte eine besonders genaue Formulierung der Theorie und fundierte Überlegung zu ihren Grundlagen notwendig. Einstein scheute sich nicht vor unorthodoxen Ideen und sollte dabei meistens recht behalten. Sein Vorschlag einer in allen Bezugssystemen konstanten Lichtgeschwindigkeit stellte z.B. den damaligen Konsens in Frage, dass für die Ausbreitung von Lichtwellen ein Medium – der Äther – erforderlich sei.
Nicht jede Alternative oder Kritik ist jedoch eine gesunde Heterodoxie, da immer die Gefahr besteht, dass sie in Richtung von Pseudowissenschaft oder bloßer Leugnung umschlägt. Beispiele dafür sind die kalte Fusion oder die Beibehaltung der Theorie eines statischen Universums angesichts einer Häufung astronomischer Beobachtungen, die klar im Widerspruch zu den Vorhersagen dieses Modells stehen. Die Homöopathie und Astrologie sind Pseudowissenschaften, und die pauschale Ablehnung der Evolutionstheorie oder der Klimawissenschaft ist eine Leugnung des Standes der Wissenschaft.
Die Qualifikation „pauschal“ ist hier wichtig. Denn selbstverständlich gibt es innerwissenschaftliche Kritik im Detail, sowohl innerhalb der Evolutionsbiologie als auch in der Klimawissenschaft. Letztendliche oder endgültige Wahrheit gibt es nicht, da die Erkenntnisbereiche sich weiterentwickeln. In sämtlichen Fachgebieten besteht noch Verbesserungspotential. Heute bekannte offene Fragen werden in der Zukunft beantwortet und manche „selbstverständliche Wahrheiten“ revidiert werden. Dies ist jedoch kein Grund, den Forschungszweig in seiner Gesamtheit in Frage zu stellen, ganz im Gegenteil zeugt solche Weiterentwicklung von einer gesunden Diskussions- und
Fehlerkultur.
Gleichzeitig sollte bedacht werden, was in der öffentlichen Diskussion selbstverständlich sein sollte: Nicht jedes Argument von Vertretern von Pseudowissenschaften und von Leugnern ist falsch, und nicht alle Argumente von Vertretern einer zu Recht anerkannten wissenschaftlichen Disziplin sind zutreffend.
Ein wiederkehrendes Beispiel in der aktuellen Diskussion ist die Tendenz, jeden Zweifel an einem Zusammenhang zwischen einzelnen Extremwetterereignissen und dem Klimawandel als „Leugnung“ zu brandmarken. Zu oft haben sich – ganz unabhängig vom eigentlichen Problem der vermutlich dramatischen Auswirkungen des Klimawandels in der Zukunft – vermeintliche Zusammenhänge als äußerst unsicher erwiesen. Aus jüngster Zeit ist die Behauptung zu nennen, die Waldbrände in Australien seien auf den Klimawandel zurückzuführen.
Tatsächlich ist eine Auswirkung der globalen Erwärmung bezogen auf Waldbrände in Australien über natürliche Schwankungen hinaus erst gegen 2040 zu erwarten, wie eine Zusammenfassung von Science Briefs4 zeigt, die sich auf Daten des IPCC stützt.
Letztendlich kommen für die Abgrenzung einer fruchtbaren Heterodoxie von Pseudowissenschaft ähnliche Merkmale zur Anwendung wie bei der Unterscheidung zwischen berechtigter Skepsis und Wissenschaftsleugnung (Sarma 2019). Vor allem: Trägt die Diskussion zum Erkenntnisfortschritt bei, auch wenn sich die Heterodoxie ganz oder teilweise als falsch erweist? Wie ist in diesem Kontext die von Dieter Köhler angestoßene Diskussion über den Gefahren von Luftverschmutzung einzuschätzen (Leick 2019)? Liegt hier ein Fall von gesunder Heterodoxie oder von Leugnung bzw. Pseudowissenschaft vor?
Hier geht es nicht darum, ob Dieter Köhler mit allen Kritikpunkten Recht hat, denn die meisten Heterodoxien sind überwiegend falsch, liefern aber dennoch wichtige Denkanstöße. Die Frage nach dem Erkenntnisgewinn kann ich zumindest in diesem Fall für mich persönlich bejahen, weswegen ich diese Diskussion klar in den Bereich nützlicher Heterodoxien einstufe.
Angesichts innerwissenschaftlicher Kontroversen scheint mehr Gelassenheit angebracht, sowohl auf der Seite des Mainstreams als auch bei dessen Kritikern, damit Debatten sachlich und fruchtbar geführt werden können. Diesen Rat sollten wir auch bei der Auseinandersetzung mit Pseudowissenschaften und Wissenschaftsleugnung beachten: bei aller Härte in der Sache freundlich und im Ton gelassen zu bleiben.
Anm. d. Red: Zum letztgenannten Punkt sei auf Ray Hymans Beitrag "Kritik üben - aber richtig" verwiesen.
Literatur
Leick, P. (2019): Streit um Feinstaub und Dieselabgase. Skeptiker 2/2019, S. 56 - 65.
Sarma, A. (2019): Wissenschaftliche Skepsis vs. Wissenschaftsleugnung: Das Beispiel der Klimaforschung. Skeptiker 4/2019, S. 186 – 190.
Vollmer, G. (1994): Wozu Pseudowissenschaften gut sind – Argumente aus Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis. Skeptiker 4/1994, S. 94 – 101.
Erstmals veröffentlicht in: Skeptiker 1/2020, S. 24 - 25.