Interview mit Michael Haase (Berlin) zum Pyramidenbaumodell von Frank Müller-Römer
Wie wurden die ägyptischen Pyramiden gebaut? Dazu gibt es viele Erklärungsansätze, sowohl von Fachleuten als auch von Laien. Einen neuen Versuch startete der Münchner Frank Müller-Römer mit seiner Doktorarbeit, die mittlerweile als Buch "Die Technik des Pyramidenbaus im Alten Ägypten“ (Utz Verlag, München 2008) erschienen ist.
Müller-Römer, Jahrgang 1936 und Diplom-Ingenieur, war zunächst bei Siemens und dem Bayerischen Rundfunk in einer leitenden Position tätig, bevor er 1995 eine Honorarprofessur für Medientechnik an der Hochschule Mittweida annahm. Parallel dazu studierte er von 1997 bis 2001 Ägyptologie und promovierte 2008 in diesem Fach.
Müller-Römers Ziel ist die Präsentation einer in sich widerspruchsfreien Hypothese, mit der sich der Bau der ägyptischen Pyramiden erklären lässt. Motiviert von den archäologischen Befunden an dervergleichsweise kleinen Mykerinos-Pyramide
in Gizeh geht Müller-Römer von zwei Bauphasen aus: Zunächst wurde der Kern der Pyramide als Stufenpyramide errichtet, danach der Verkleidungsmantel angebracht. Bei der Errichtung des Kerns in der ersten Bauphase schlägt Müller-Römer die Verwendung so genannter Tangentialrampen vor, die auf allen vier Seiten der Pyramide an den Stufen des Kernmauerwerks zu diesem parallel angeordnet waren. Über diese Rampen erfolgte der Steintransport mit Hilfe von Seilwinden, die am oberen Ende der Rampen angebracht waren. Nach der Fertigstellung des Kerns wurden die Rampen abgerissen und man begann mit der Errichtung des Verkleidungsmantels. Dabei wurde wiederum auf Tangentialrampen und Seilwinden zurückgegriffen.
Außerdem errichtete man an der Pyramide Arbeitsplattformen, auf denen die Arbeiter nach Aufsetzen der Pyramidenspitze (Pyramidion) die Außenverkleidung glätten konnten. Mit Fertigstellung der Verkleidung wurden Rampen und Arbeitsplattformen wieder entfernt. Dieses am Beispiel der Mykerinos-Pyramide entworfene Szenario überträgt Müller-Römer auf den Bau zweier großer Pyramiden, nämlich der des Cheops in Gizeh und der "Roten Pyramide" des Snofru in Dahschur.
Wirklich neu ist Müller-Römers Ansatz nicht. Er greift auf ältere Pyramidenbaumodelle zurück und verwendet einzelne Elemente wie etwa eine Zweiphasigkeit des Pyramidenbaus oder Tangentialrampen und Seilwinden für seine eigene Hypothese. (1) Im Ergebnis möchte Müller-Römer seine Hypothese zum Pyramidenbau durch eine modifizierte Anordnung dieser Elemente etablieren.
Seit dem Erscheinen seiner Dissertation versucht Müller-Römer, seine Hypothese auch medienwirksam zu präsentieren. (2) Merkwürdig erscheint dabei allerdings deren Vorstellung im Internet. (3) Nach Veröffentlichung des Buches im Jahr 2008 wurden bereits zwei überarbeitete Versionen der Arbeit online gestellt, bei denen u. a. die Angaben zu den Bauzeiten der untersuchten Pyramiden korrigiert wurden. Dieser Umstand wie u. a. auch der inkonsequente Umgang mit den Schwertransportrampen (s. u.) erwecken zwangsläufig den Eindruck, als sei dieses Modell weder vollständig durchdacht noch in sich schlüssig ausgearbeitet.
Lassen sich mit Müller-Römers Ansatz offene Fragen der Pyramidenforschung beantworten? Über einige Aspekte der Arbeit sprach Klaus Richter mit Michael Haase, dem Autor mehrerer Bücher über ägyptische Pyramiden und Herausgeber der Fachzeitschrift Sokar. (4)
Herr Haase, was halten Sie von Müller-Römers Pyramidenbaumodell?
Ich hatte von Anfang an große Vorbehalte. Ähnlich sehen das auch Kollegen, mit denen ich gesprochen habe. Eine
tur. Im Fall der Cheops-Pyramide versucht Müller-Römer, ein solches Kerngebilde durch "Unregelmäßigkeiten" im Mauerwerk an einer bestimmten Stelle des Grabräubertunnels zu indizieren, der heute den Touristen als Zugang zum Kammersystem dient. Auch wenn diese Beobachtung zutreffen mag, ließe sich daraus nicht zwingend ableiten, dass in der Cheops-Pyramide ein stufenförmiger Kernbau existiert. Und selbst wenn dort eine Kernstruktur vorhanden sein sollte, gäbe es hierfür plausible Erklärungen, die nichts mit dem Bauszenario von Müller-Römer zu tun haben.
Im Zusammenhang mit der Roten Pyramide haben Sie in der FAZ auf einen Widerspruch in Müller-Römers Modell hingewiesen. Worum ging es dabei?
Im unteren Bereich der Roten Pyramide wurden in verschiedenen Höhenlagen Steinblöcke gefunden, die Datumsinschriften aufweisen. Die Blöcke stammen vom Verkleidungsmantel; ihre Markierungen datieren in die ersten Baujahre des Grabmals. Müller-Römer bestätigt diesen archäologischen Befund und verwendet den daraus resultierenden Baufortschritt, um die Leistungsfähigkeit seines Modells zu belegen. Offensichtlich hat er dabei aber übersehen, dass die Baudaten an der Roten Pyramide seinem Szenario widersprechen. Denn hätte es an Snofrus Grabmal eine gekritische
Analyse dieses Pyramidenbaumodells habe ich im Sommer 2009 an der Universität Wien vorgestellt;(5) einige meiner
grundsätzlichen Kritikpunkte waren auch Gegenstand eines Beitrages in der FAZ Ende letzten Jahres.(6)
Wie bewerten Sie den Ansatz, Kernmauerwerk und Verkleidungsmantel einer Pyramide seien getrennt voneinander errichtet worden?
Eine derartige Vorgehensweise wäre von der Bautechnik und Logistik her nicht sinnvoll. Durch das gleichzeitige Verlegen beider Mauerwerke hätte man sich z. B. den Aufbau und Abriss vieler Rampen am Kernbau ersparen können. Außerdem belegen archäologische Befunde an der Roten Pyramide in Dahschur, dass dort Kernmauerwerk und Verkleidungsmantel gleichzeitig verlegt wurden.
Existiert in den Grabmälern von Snofru und Cheops ein ähnlich stufenförmiger Kernbau wie in der Mykerinos-Pyramide?
Bei der Roten Pyramide gibt es keinen Hinweis auf eine derartige Struktrennte Errichtung von Kern- und Verkleidungsmauerwerk gegeben, dann müssten die Datumsinschriften aus einer sehr viel späteren Bauphase stammen.
Was halten Sie von Tangentialrampen im Pyramidenbau?
Solche Transportwege sind an ägyptischen Grabbauten archäologisch belegt bzw. indizierbar und gehören seit langem zum festen Bestandteil von Rampenmodellen. Sie weisen gegenüber senkrecht an den Flanken einer Pyramide anliegenden Rampen wesentliche Vorteile auf. Tangentialrampen können die gesamte Länge des Baukörpers ausnutzen und bei seiner Erhöhung ein relativ konstantes Transfervolumen auf den bereits bestehenden Zugpisten durch einfache Schlittentransporte gewährleisten. Im Modell von Müller-Römer würde ein stetiger Materialfluss jedoch durch das lagenweise Ab- und Wiederaufbauen der auf den Rampen befindlichen Seilwinden immer wieder unterbrochen werden.
Außerdem ist die Größe der Plattformen der dortigen Rampen bei maximaler Höhe für den Transport langer Steinblöcke zu klein bemessen.
In diesem Modell werden aufwändige Seilwinden eingesetzt. Sind solche Hilfsmittel aus dem Alten Reich bekannt?
Nein. Der Einsatz derartiger Seilwinden ist im Alten und Mittleren Reich archäologisch nicht belegt und lässt sich auch nicht – wie Müller-Römer vermutet – aus dem Fallsteinsystem vor der Grabkammer der Cheops-Pyramide ableiten.
Ließen sich mit Seilwinden, wie sie sich Müller-Römer vorstellt, überhaupt große Gewichte transportieren?
Nein. Durch eine eingeschränkte Betrachtung von "Durchschnittsblöcke" und die daraus resultierende Begrenzung der Zuglasten der Seilwinden auf maximal 4,5 t sowie aufgrund der unzureichend bemessenen Arbeitsplattformen auf den Rampen ist Müller-Römers Transportwegszenario nicht in der Lage, die im Pyramidenbau anfallenden Schwertransporte zu bewerkstelligen. Der größte bislang bekannte Granitblock der Außenverkleidung der Mykerinos-Pyramide wurde an deren Ostseite verbaut und wiegt über 25 Tonnen.
Über welche Gewichte sprechen wir hier?
Insbesondere über die bis zu 8 m langen und über 50 t schweren Granitbalken, die zum Aufbau der 43 m über dem Basisniveau liegenden Grabkammer der Cheops-Pyramide verlegt werden mussten. Aber auch in den anderen von Müller-Römer betrachteten Grabbauten finden sich Steinblöcke, die mit den hier veranschlagten Seilwinden nicht zu transportieren wären. So z. B. ein über 7 t schwerer Kalksteinblock über dem 28 m hoch liegenden Eingang der Roten Pyramide. Ein vergleichbares Gewicht dürfte auch so mancher Granitblock der Außenverkleidung der Mykerinos-Pyramide aufweisen.
Wie geht Müller-Römer mit derartigen Schwerlasten um?
In Anbetracht der zu leistenden Schwertransporte im Fall der Cheops-Pyramide plädiert er letztlich sogar für eine Modifikation seines Modells. Entgegen seiner ursprünglichen Haltung schließt Müller-Römer hierfür insbesondere den Einsatz monumentaler, senkrecht oder tangential anliegender Baurampen nicht mehr aus. Durch eine derartige Umgestaltung der Transportwege würde aber ein völlig neues Bauszenario entstehen, über das leider keine ausführliche Diskussion mehr geführt wird.
Wie bewerten Sie diese Kehrtwendung?
Als einen Schritt in die richtige Richtung. Auf der Suche nach geeigneten Transportwegmodellen im Pyramidenbau kommt man aufgrund der bestehenden Schwertransportproblematik derzeit nicht an umfangreichen Rampenkonstruktionen vorbei. Die notwendige Verknüpfung von monumentalen Grabmälern mit großen Baurampen entspricht sicherlich auch dem Zeitgeist der alten Ägypter, die in technologischen Fragestellungen ganz anders denken und handeln mussten als wir dies heute in vergleichbaren Bausituationen tun würden.
Was erwarten Sie von zukünftigen Arbeiten zu diesem Thema?
Der Entwicklung eines Pyramidenbaumodells sollte insbesondere eine möglichst objektive, das gesamte relevante Datenmaterial umfassende und fachlich tiefgründige Darstellung und Bewertung der bekannten Rampenbefunde und bisherigen Transportwegmodelle vorausgegangen sein. Offene Fragestellungen müssen dabei unvoreingenommen betrachtet werden; bestimmte Zielvorstellungen sind in der Regel nicht dienlich und führen oftmals in Sackgassen. Eine enge Kopplung zwischen Modell und archäologischer Realität ist nach wie vor die Grundvoraussetzung für die Akzeptanz und Nachhaltigkeit einer Bautheorie innerhalb der Pyramidenforschung.
Herr Haase, vielen Dank für das Interview.
Interview: Klaus Richter
Michael Haase
Jahrgang 1960, ist Diplom-Mathematiker, Pyramidenforscher und Herausgeber der ägyptologischen Fachzeitschrift Sokar (siehe www.verlag-michael-haase.de).
Anmerkungen
(1) Siehe dazu auch die Rezension von Claus Jurman zu Müller-Römer "Die Technik des Pyramidenbaus im Alten Ägypten" in Frankfurter elektronische Rundschau zur Altertumskunde 8/2008 (http://s145739614.online.de/fera/ausgabe8/Jurman.pdf, Zugriff am 18.01.2010).
(2) So etwa in einem Interview mit der Zeitschrift Bild der Wissenschaft vom 19. März 2008, abrufbar unter http://www.wissenschaft.de/wissenschaft/hintergrund/289546.html?page=0 (Zugriff am 18.01.2010), oder Müller-Römers Auftritt in der TV-Wissenschaftssendung "Planet Wissen", Sendung vom 23. September 2009.
(3) Siehe unter http://edoc.ub.uni-muenchen.de/8064/ wie auch http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/propylaeumdoc/
volltexte/2009/349/.
(4) www.verlag-michael-haase.de
(5) Der Vortrag "Oberhalb der Nullebene. Bemerkungen zu aktuellen Rampenmodellen" wurde am 19.06.2009 im Rahmen einer Vorlesung am dortigen Ägyptologischen Institut gehalten.
(6) Siehe Rauchhaupt, U. v.: Pyramiden-Pläne, FAZ, 20.12.2009, S. 64 – 65