Blutsauger haben goldene Augen, leben abstinent und sind der Traum aller weiblichen Teenager – zumindest in der Buchreihe "Bis(s)", die einen Vampir-Boom ausgelöst hat. Echte Vampire sind dagegen häufig verschattete Existenzen, denen es an Energie mangelt. Und die müssen sie sich holen. Der Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke und die
Psychologin Lydia Benecke haben die "Vampyr"-Szene“ intensiv ausgeforscht. Skeptiker-Chefreporter Bernd Harder sprach mit den beiden.
"Dracula" war in Bram Stokers Erzählung von 1897 ein Erotomane auf dem Kreuzzug gegen die Tabus und Prüderie des viktorianischen Zeitalters – Liebhaber und Verführer, Blutsauger und Zerstörer. Liest man aktuelle Vampir-Romane, hat man das Gefühl, in einer Fotolove-Story der Bravo zu blättern.
Lydia Benecke: Das ist richtig. Der Sunnyboy-Vampir Edward Cullen aus der "Bis(s)"-Reihe zum Beispiel verkörpert nichts anderes als den klassischen Märchenprinzen. Er wird als überirdisch attraktiv dargestellt, ist moralisch hochstehend und stets um das Seelenheil seiner menschlichen Partnerin Bella besorgt, die er allzeit aus gefährlichen Situationen rettet. Ganz im Gegensatz zu "Dracula", der als egoistisches, triebgesteuertes Wesen auftritt, christliche Werte verabscheut und die von ihm begehrte Frau Mina nicht beschützen, sondern besitzen will.
Mithin war der Vampir à la „Dracula“ eine subtile literarische Metapher für Sexualität. Heute scheinen die "Bis(s)"-Romane eher der Gegentrend zur viel zitierten Übersexualisierung der Gesellschaft zu sein.
Lydia Benecke: Beide Romankonzepte bedienen die Grundbedürfnisse ihrer Zeit – und die sind in der Tat völlig gegensätzlich. "Dracula" steht für das wilde, rücksichtslose Ausleben sexueller Bedürfnisse, symbolisiert durch das Beißen und Aussaugen. Edward dagegen tut alles, um seine blutlüsternen – also sexuellen – Triebe im Zaum zu halten. Beide, Dracula wie Edward, waren beziehungsweise sind Idole, besonders bei weiblichen Lesern. Möglicherweise hat das etwas mit Grundbedürfnissen zu tun, die in der Realität nicht befriedigend werden.
Welche Bedürfnisse treiben denn die "Fanpires" von "Bis(s)" und "Twilight" um?
Lydia Benecke: In der Vergangenheit fanden Wünsche nach Selbsterfüllung und sexueller Freiheit ihren Ausdruck in den Phantasien um die amoralische und zügellose Gestalt des Grafen Dracula. In unserer heutigen Gesellschaft haben glücklicherweise auch Frauen mannigfaltige Möglichkeiten zur Selbstentfaltung – im Beruf ebenso wie in Partnerschaft und Sexualität.
Die Kehrseite dieser Entwicklung ist aber, dass Beziehungen oft eben nicht ein Leben lang halten und dass der konservative Traumprinz, der Sex, Treue, Romantik und Sicherheit gleichermaßen garantiert, eher ein Auslaufmodell ist. Aus dieser Perspektive ist nachvollziehbar, dass ein Romanheld wie Edward, der seine Triebe im Griff hat und Sex nur in einer gefestigten Liebesbeziehung praktiziert, viele Leserinnen mehr anspricht als der hemmungslose Dracula – dessen Lebensstil in einer heutigen Großstadt vermutlich kaum mehr auffallen würde.
Dr. Mark Benecke: Das kann ich unterstreichen. Meiner Erfahrung nach handelt es sich bei den harten "Bis(s)"-Fans weniger um Menschen, die sexuell zu wenig erleben, sondern eher einen unerfüllten Wunsch nach vollkommener Nähe haben. Dieses Motiv wird durch das Vampirische nach wie vor bedient: ewige Liebe.
Das könnte man wohl durchaus positiv sehen – wenn die "Bis(s)"-Autorin Stephenie Meyer nicht gerade bekennende Mormonin wäre, die an der Brigham Young Universität im Mormonenstaat Utah studiert hat. Einer Institution, deren "Ehrenkodex" unter anderem außereheliche und homosexuelle Beziehungen untersagt.
Lydia Benecke: Ja, die Cullen-Familie in der "Bis(s)"-Reihe lebt im Einklang mit mormonischen Grundwerten. Der dreizehnte Glaubensartikel der Mormonen fasst diese Einstellung so zusammen: "Wir glauben, dass es recht ist, ehrlich, treu, keusch, gütig und tugendhaft zu sein und allen Menschen Gutes zu tun (...). Wenn es etwas Tugendhaftes oder Liebenswertes gibt, wenn etwas guten Klang hat oder lobenswert ist, so trachten wir danach."
Damit steht der Lebensstil der Cullens in strengem Kontrast zu den anderen Vampiren, die "böse" sind und ihre Triebe ohne Rücksicht auf Menschenleben ausagieren. Die Vampire in den "Bis(s)"-Romanen sind stereotype Figuren, rigide in Gut und Böse eingeteilt. Stephenie Meyers Botschaft ist mithin typisch für ihren mormonischen Glauben: Sündige Regungen müssen mithilfe starker moralischer Überzeugungen kontrolliert werden. Andererseits ist die Idee, christliche Werte und Moralvorstellungen in eine Vampir-Geschichte zu verpacken, gar nicht so neu.
Auch in Bram Stokers "Dracula"-Roman behalten die Werte, Normen und Institutionen der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung die Oberhand: Der Kampf gegen die verdrängten Triebe wird am Ende durch Draculas Vernichtung gewonnen.
Euer Buch "Vampire unter uns!" möchte erklärtermaßen dem Vampir-Thema "ein wenig Real Life" beigeben. Tatsächlich besteht die Vampir-Szene nicht aus jugendlichen "Bis(s)"-Fans. Was sind und tun "echte" Vampire?
Dr. Mark Benecke: Echte Vampyre – das "y" im Namen markiert den Unterschied zu den Vampiren aus Film und Literatur – sind eine zahlenmäßig sehr kleine Subkultur, die weltweit nur wenige tausend Anhänger hat. Es handelt sich um Menschen, die von Zwängen, Ängsten und manchmal auch Blutdurst oder Energiehunger getrieben werden. Das mag befremdlich klingen, aber ich kenne mehrere "echte" Vampyre und finde sie sehr sympathisch. Darüber hinaus halte ich sie, wenn sie sich – wie jeder andere auch – ihre Schwächen eingestehen, für durchaus entspannt. Niemand von den Vampyren findet die weichgespülten "Bis(s)"-Romane oder "Twilight"-Filme gut. Kein Wunder, denn bei den echten Vampyren geht es wie in allen "identity groups" um viel tiefer gehende Seelenregungen.
Dazu mal ein Zitat einer echten organisierten Vampyrin mit Namen Flo aus einer wenige Tage alten E-Mail an mich: Es war sehr schön mit dir zu sprechen, zu trinken und zu feiern. Ich weiß nicht, ob Dir das so bewusst ist, aber Bloody und ich haben noch einmal darüber gesprochen, wie schön es war, das Gefühl vermittelt zu bekommen, dass wir keine Irren sind und dass wir sogar in einem Saal voller Leute ohne Scham die Hand heben konnten, als Du gefragt hast, wo die Vampyre sitzen. Nach all der Zeit, die wir damit verbracht haben, uns im Verborgenen zu halten und niemandem etwas von unserem "wahren Ich" (so pathetisch das klingen mag) zu zeigen, war es wie eine Befreiung, wenigstens für ein paar Stunden ganz wir selbst zu sein. Vielen Dank auch dafür. Das hat sehr gut getan.
Lydia Benecke: Die Atlanta Vampire Alliance1 (AVA) hat im Jahr 2006 online Personen befragt, die sich selbst als Vampyre sehen. Demnach besteht die Szene aus etwas mehr Frauen als Männern, der Großteil ist unter 30 Jahren alt. Nur 48 Prozent der weiblichen und 66 Prozent der männlichen Vampyre sind heterosexuell – ein größerer Anteil ordnet sich als bi- oder homosexuell ein.
Des Weiteren fällt auf, dass viele der Studienteilnehmer von schwierigen Kindheitserlebnissen berichten. Fast die Hälft der Befragten wurde körperlich misshandelt, sexuell missbraucht oder erlebte beides. Da verwundert es nicht, dass sehr viele an einer diagnostizierten Depression, viele auch an verschiedenen Angststörungen, Zwangsstörungen, Schlafstörungen und chronischen Kopfschmerzen leiden. Außerdem sticht hervor, dass unter den Vampyren auffällig viele Personen zu finden sind, die nach eigenen Angaben überdurchschnittliche Ergebnisse in IQ-Tests erzielt haben.
Ist die Vampir-Szene mithin eine Art Therapiegruppe für psychisch Kranke?
Lydia Benecke: Der genannten Studie zufolge scheint es besonders viele seelisch belastete Menschen in der Vampyrszene zu geben. Eine Szenezugehörigkeit an sich kann niemals eine Therapie ersetzen. Aber sie kann soziale Isolation – an der viele Menschen mit Depressionen und Ängsten leiden – mildern. Auch das Gefühl, mit dem "Anders sein" nicht alleine dazustehen, also mit den eigenen Besonderheiten in einer Gruppe akzeptiert zu werden, kann Betroffenen helfen, sich selbst etwas positiver wahrzunehmen.
Interessant finde ich, dass von den Befragten nur acht Prozent sagten, sie würden lieber "normal" sein und ihr Empfinden, ein Vampyr zu sein, aufgeben. Diese Quote ist unserer Erfahrung nach höher. Allerdings gaben drei Viertel der Befragten an, überhaupt keiner festen Vampyr-Gruppe anzugehören und das Bluttrinken und/oder Energieziehen hauptsächlich an privaten Freunden, Beziehungs- oder Sexualpartnern einvernehmlich auszuleben. Viele nehmen als Ersatz für menschliches Blut auch tierisches Blut her und – für mich überraschend – Schokolade!
Gibt es Überschneidungen mit der Gothic-Szene?
Lydia Benecke: In der AVA-Studie gab nur etwa ein Drittel der Vampyre eine Zugehörigkeit zur Gothic-Szene an.
Wo könnte ich eine Vampyrin kennenlernen?
Dr. Mark Benecke: Die Szene spielt sich vorwiegend im Internet ab, teils mit regelmäßigen Treffen im realen Leben. Wer sich mit den ganzen Sigils, den vampirischen Erkennungszeichen, auskennt, könnte eine Vampyrin auch im Alltag erkennen, etwa an dem Symbol Bladed Ankh, das einige als Schmuckstück und Erkennungszeichen tragen. Die Chancen sind aber gering.
Und wie groß ist die Gefahr, nachts in einer Großstadt von einem Vampyr oder einer Vampyrin überfallen und gebissen zu werden?
Dr. Mark Benecke: Null Komma null.
Lydia Benecke: Extrem unwahrscheinlich. In der AVA-Studie zum Beispiel hatten auch nur zwei Prozent der Befragten irgendeine Vorstrafe. Vampyre scheinen sehr gesetzestreu zu sein.
Nichtsdestotrotz beobachten einige Jugendschützer die Vampir-Szene mit Argwohn und warnen vor "sehr manifesten
Gefährdungen" (2) – in erster Linie allerdings für die Protagonisten selbst. Gefahren sollen sich etwa ergeben aus "gesellschaftlichen Entfremdungsprozessen, der Habitualisierung von Grausamkeiten sowie den sexualisierten und fetischmotivierten Gewalterfahrungen" (3). Insofern könne ein Ausflug in die Szene der Real-Life-Vampyre "mit erheblichen Traumatisierungen" (4) verbunden sein.
Dr. Mark Benecke: Ich selbst habe als jemand, der nun wirklich in den Schuppen rumgehangen ist, die man sonst nur als Filmfantasie à la "Blade" kennt, noch nicht ein einziges Mal irgendwelche habitualisierten Grausamkeiten oder etwas Traumatisierendes bei Vampyrfeiern erlebt. Ich bin nun auch nicht schlauer als andere, aber immerhin war ich mittendrin. Wenn mal jemand etwas Schlimmes dort erlebt hat, dann sicher nicht durch Gewalterfahrungen, sondern weil die Person sich möglicherweise psychisch überhoben hat. Das kann einem aber auch passieren, wenn man Extremsport betreibt oder sich einfach nur Filme anschaut, die man besser nicht gesehen hätte.
Lydia Benecke: Auf welchen Fakten beruht diese Pauschalkritik überhaupt? Mir liegen keine wissenschaftlich begründeten Erkenntnisse vor, dass die Beschäftigung mit solchen Themen oder auch eine Vorliebe dafür eine nachweisbare Gefährdung für damit in Berührung kommende Menschen darstellt.
Besonders interessant finde ich hier das Stichwort "gesellschaftliche Entfremdungsprozesse". Was ist damit genau gemeint? Die "Gesellschaft" besteht doch nicht – wie man sich das in Diktaturen gewünscht hat – aus einem gleichgeschalteten Kollektiv, sondern aus einer sehr heterogenen Vielzahl von Menschen, die sich in zahllose Untergruppen aufteilen, ob nach Beruf, Religion, Hobby, Freizeitaktivität, politischer Einstellung, Modegeschmack oder sonstigen Vorlieben. Und selbst innerhalb dieser Untergruppen herrscht hinreichend Diversität. Wer also sollte in der Vampyr-Szene wovon entfremdet sein?
Aber ist Blutdurst zum Beispiel wirklich völlig harmlos? Zumal – und das ist ein konkreter Kritikpunkt – "die Opfer vampirischer Gewalt schlicht als Beute, Donor oder Source bezeichnet werden".(5)
Dr. Mark Benecke: Die Bezeichnung "Beute" habe ich in über zehn Jahren noch nie gehört. Dass die Blutspender "Donoren" heißen, kommt daher, dass dies das normale angloamerikanische Wort für "Blutspender" ist. Außerdem gilt in der Szene der Grundsatz: "safe, sane and consensual". Sicher muss der Kontakt sein und in gegenseitigem Einverständnis sowie bei geistiger und körperlicher Gesundheit stattfinden.
Auch die Formulierung „Opfer vampirischer Gewalt“ halte ich für mindestens missverständlich. Denn niemand, der nach realen Vampir-Verbrechen gesucht hat, ist bislang fündig geworden. Die amerikanische Psychologin und Autorin Katherine Ramsland (6) beispielsweise hat ebenso wie ich selbst enge Kontakte zu Szene-Mitgliedern und ein geschultes Auge für Straftaten. Doch obwohl wir beide tief in die Schwärze gefasst haben, konnten wir unabhängig voneinander nichts, aber auch wirklich gar nichts zu Tage fördern.
Lydia Benecke: Ein verantwortungsvoller Umgang mit dem eigenen Körper und mit Leib und Leben anderer Menschen ist gerade bei Gruppen, deren Aktivitäten ein Verletzungspotenzial bergen, durchaus gegeben. Ob dies nun ein Boxverein, eine sadomasochistische Gruppe oder ein Vampyrzirkel ist, ist letztendlich Geschmackssache. Entscheidend sind Bewusstsein, Verantwortungsgefühl und ein kontrollierter Umgang mit den eigenen Vorlieben.
Insgesamt ähneln die Kritikpunkte sehr stark den Vorwürfen, die auch der BDSM-Szene (7) gemacht werden. Aktuell ist in Fachkreisen unstrittig, dass weder der Konsum von Pornographie – auch nicht sadomasochistischer – noch das Ausleben von Sexualität, die mit Schmerz und Dominanz beziehungsweise Unterwerfung verbunden ist, in einvernehmlichem Rahmen zu krimineller sexueller Gewalt führen würde. Genau zu den Themen "Auswirkungen von Pornographie" und "Sadomasochismus" gibt es unterschiedliche Gründe und Motive bei denjenigen, die sich selbst unter den Oberbegriff „Vampyre“ subsumieren.
Sehr verbreitet ist etwa die Vorstellung, über das Blut die "Energie" anderer Menschen zu "ziehen" – also die eigenen, zu schwachen Energiereserven auffüllen zu können. Die bereits genannten Energievampire, eine Untergruppe in der Vampyr-Subkultur, belassen es sogar weitgehend bei der bloßen Vorstellung dieses "Energietransfers" und verzichten dabei vollständig oder zumindest teilweise auf Blut.
Das Ganze spielt sich also eher im Kopf ab?
Lydia Benecke: Ja, so ähnlich wie bei psychotherapeutischen Imaginationsübungen, die besonders bei der Behandlung traumatisierter Menschen genutzt werden. Dabei erzeugen die Patienten vor ihrem geistigen Auge bildhafte Vorstellungen, beispielsweise von einer helfenden Person oder einem sicheren Raum. Oder die Person soll sich vorstellen, ein Baum zu sein und wohltuende Kraft aus der Sonne und durch die Wurzeln aus dem Boden zu ziehen. An genau diese Übung musste ich bei den Schilderungen einiger Vampyre sofort denken.
Ist "Energiearmut" bei Vampyren gleichbedeutend mit "Depression"?
Lydia Benecke: Ich halte es für möglich, dass die Vorstellung des Energieziehens eine unbewusste Kompensationsstrategie ist. Etwa, um damit Antriebslosigkeit – in der Tat ein typisches Depressionssymptom – entgegenzuwirken. Das passt auch dazu, dass manche Personen in der Vampyr-Subkultur sich bei längerem "Blutentzug" schwach fühlen.
Dr. Mark Benecke: Lassen wir zum Thema Blut und Bluttrinken doch einfach einen Vampyr selbst sprechen, der Markus heißt und mit dem wir für die Neuauflage unseres Buches gesprochen haben: Die für Außenstehende wohl signifikanteste Eigenschaft eines Vampyrs, welche die meisten Menschen aber auch gehörig abschreckt, ist das Bluttrinken. Entgegen der allgemeinen Vorstellung handelt es dabei nicht um Fetischverhalten, denn einem Fetisch haftet eine besondere sexuelle Bedeutung an. Es ist richtig, dass es Blutfetischismus in der Vampyr-Szene gibt, aber nicht jeder Blutfetischist ist zugleich ein Vampyr. Ich persönlich empfinde keine erotischen Gefühle beim Anblick oder Geschmack von Blut, jedenfalls nicht mehr als bei dem Anblick oder dem Geschmack von Erdbeeren. Diesen Vergleich bringe ich in diesem Zusammenhang gern, weil die meisten Menschen den Bezug zu Blut und die sexuellen Hintergründe dann ein wenig besser verstehen.
Das Gefühl, das mich dazu treibt, Blut trinken zu wollen, ist allerdings gut mit dem Gefühl zu vergleichen, Sex haben zu wollen – ohne dass ich damit eine Verbindung zwischen diesen beiden Bedürfnissen herstellen möchte. Woher dieses Verlangen kommt, kann ich leider nicht beantworten, und in der Vampyr-Szene gehen die Meinungen dazu auch auseinander. Ich persönlich hatte nie ein prägendes Erlebnis mit Blut, das eventuell zu dieser Leidenschaft geführt haben könnte.
Eine gewisse Faszination für den roten Lebenssaft habe ich jedoch schon immer gehegt und mit etwa 14 Jahren verspürte ich dann sehr deutlich das Gefühl, ihn auch trinken zu wollen. Das darf man sich allerdings nicht wie einen Schalter vorstellen, der plötzlich umgelegt wird, sondern eher wie die langsam steigende Fiebersäule eines Thermometers. Wir Vampyre sterben natürlich nicht, wenn wir kein Blut zu uns nehmen, aber das Verlangen danach wächst mit jedem Tag, an dem wir es nicht bekommen. Eben ähnlich wie mit Sex.
Das Trinken von Tierblut ist übrigens in der Vampyr-Szene verpönt, weil man entweder kaltes, ekliges, totes Blut beim Schlachter kaufen oder aber ein lebendiges, unschuldiges und ängstliches Tier anzapfen müsste, das ganz sicher kein Einverständnis zu dieser Behandlung geben würde, selbst wenn es könnte. Wir quälen keine Tiere. Ich selbst habe auch die Erfahrung gemacht, dass in der Metzgerei gekauftes Schweineblut wirklich eklig schmeckt.
Sind Vampyre therapiebedürftig im klinischen Sinne?
Dr. Mark Benecke: Das hängt vom Leidensdruck ab. Viele Vampyre sind ganz besondere Menschen, beispielsweise sehr intelligent oder depressiv oder zwanghaft oder öfter auch mal alles zusammen. Aber als ausufernd Verrückte sind sie mir in den Subkulturen nie aufgefallen. Die Frage muss man jedem Einzelnen stellen: "Leidest Du?" Das gilt aber für jeden Menschen, auch für Skeptiker. Falls ja, sollte man etwas dagegen tun.
Vampyre leiden etwa unter Sonne, Dummheit und Ignoranz, so dass hier die Grenze zu den zweifellos häufigen unschönen Erlebnissen in ihrer Kindheit oder Jugend und deren Folgen manchmal verschwommen ist. Ich selbst kann mit solchen Persönlichkeitsfärbungen gut leben, weil ich keine Angst vor düsteren Dingen habe und mit Vampyren daher sehr gut klarkomme.
Lydia Benecke: Wie schon gesagt sind die Motive für das Bluttrinken sehr vielfältig. Deshalb würde ich immer den Einzelfall betrachten. Viele der Vampyre, die bei der AVA-Untersuchung befragt wurden, litten an verschiedenen psychischen Störungen, vor allem an Depressionen, Angst oder Zwangsstörungen, die jeweils für sich genommen schon einer klinischen Behandlung bedürfen. Allerdings konnten an dieser Untersuchung auch nur solche Personen teilnehmen, die glauben, ohne regelmäßigen Konsum von Blut an fühlbaren Entzugserscheinungen zu leiden. Das trifft aber nicht auf diejenigen Vampyre zu, die nur hin und wieder Blut zu sich nehmen. In welchem Zusammenhang das Bluttrinken und/oder "Energieziehen" zu manchmal vorhandenen psychischen Störungen steht, müsste daher bei jedem einzelnen Vampyr gesondert geklärt werden.
Bei unseren Gesprächen mit Vampyren aus der deutschen Subkultur zeigte sich, dass auffällig viele von ihnen in ihrer Kindheit traumatisierenden Erlebnissen ausgesetzt waren, wie etwa körperlichem und/oder sexuellem Missbrauch und emotionaler Vernächlässigung beziehungsweise emotional sehr instabilen Eltern – also im Grunde dieselben Auffälligkeiten wie in der AVA-Studie.
Viele der deutschen Vampyre zeigen oder zeigten in den Phasen ihres Lebens, als sie mit dem Bluttrinken begannen, Merkmale einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. Die Betroffenen haben Probleme damit, ihre Gefühlszustände und damit zusammenhängende Denk- und Verhaltensweisen angemessen zu steuern, sie zeigen vorübergehende unterschiedliche Störungen der Wahrnehmung und des Bewusstseins, körperliche Beschwerden und zwischenmenschliche Probleme. Menschen, die unter einer solchen Störung leiden, können sehr von einer Psychotherapie profitieren. Bei Personen, die das kontrollierte und in einem verantwortbaren Umfang stattfindende Bluttrinken im fetischistischen Sinne zur Steigerung ihrer sexuellen Erregung nutzen und dies mit einem gleichgesinnten Partnern einvernehmlich in eine befriedigende Sexualität einbetten und an keinen sonstigen psychischen Störungen leiden, sehe ich keinen Behandlungsbedarf.
Was wird passieren, wenn die heutigen "Bis(s)"-Fans älter sind? Erfährt dann die Vampyr-Szene einen deutlichen Zulauf?
Dr. Mark Benecke: Es gab und gibt keinen Zulauf zur Vampyr-Szene durch "Bis(s)" oder "Twilight", da dort andere Motive angesprochen werden.
Lydia Benecke: In der Vampyr-Szene wird die "Bis(s)"-Reihe belächelt. Die Cullen-Vampire haben nun wirklich nichts mehr von den Motiven der alten Vampir-Romane und -filme. Und schon gar nicht reflektieren sie die Beweggründe der "echten" Vampyre. Die "Bis(s)"-Fans sind nicht umsonst Leute, die sich ansonsten absolut nicht für Vampire interessieren und die sehr wahrscheinlich mit Dracula oder selbst mit den Romanen von Anne Rice gar nichts anfangen könnten.
Interview: Bernd Harder
Lydia Benecke
ist Psychologin und befindet sich zurzeit in der Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin. Berufserfahrung sammelt(e) sie in psychologischen und psychiatrischen Einrichtungen sowie im Strafvollzug. Sie arbeitet(e) mit Gewalt- und Sexualstraftätern sowie mit psychisch erkrankten Menschen, die an verschiedenen – und unterschiedlich stark ausgeprägten – Störungen leiden. Ihr besonderes Interesse gilt Persönlichkeitsstörungen und Paraphilien (normabweichende sexuelle Vorlieben) im forensischen Kontext sowie den Besonderheiten der Gothic- und BDSM-Subkulturen.
Dr. Mark Benecke
arbeitet weltweit als Kriminalbiologe. Er ist Mitglied im Wissenschaftsrat der GWUP. Randständige skeptische Themen interessieren ihn seit langer Zeit, wie verschiedene Veröffentlichungen im Skeptiker – etwa zu Spontaner Selbstentzündung (SHC), Magnetischen Bergen, Zombies oder der Zahl 23 – zeigen. Esoteriker/Innen und Magier/Innen fürchtet er, "anders als viele Skeptiker", nicht. Seit 1999 hat Benecke eine wöchentliche Sendung über wissenschaftliche Themen im öffentlich-rechtlichen Rundfunkprogramm.
Zum Thema:
"Vampire unter uns!" von Mark Benecke und Lydia Benecke
(mit Kathrin Sonntag und Nastassia Palanetskaya) in der Edition Roter Drache erscheint im Herbst in einer überarbeiteten
und stark erweiterten Neuauflage.
Anmerkungen:
(1) www.atlantavampirealliance.com
(2) Zit. nach Rainer Fromm/Manuela Ruda: Tanz der Vampyre. Abwege einer Jugendkultur zwischen Fun und Fetisch. In: EZW-Materialdienst 11/2007, S. 423–428.
(3) ebenda
(4) ebenda
(5) Zit. nach Rainer Fromm: "Vampirismus" in Deutschland. Bestandsaufnahme einer Subkultur. In: EZW-Materialdienst 6/2006, S. 205–225.
(6) Ramsland, K. (1999): Vampire unter uns. Ein Undercover-Bericht. vgs-verlagsgesellschaft, Köln.
(7) Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism.
(8) Fromm, 2006.
(9) Vgl. "Tötung, Sterben und Gewalt" in Skeptiker 1/2006, S. 36.