Martin Mahner
Wissenschaft lässt sich nicht philosophisch voraussetzungsfrei betreiben. Eine der zentralen philosophischen Annahmen der Realwissenschaften ist der Naturalismus. Doch was ist darunter zu verstehen und warum ist er so wichtig? Ist er ein essentielles Postulat oder könnte es eine nicht naturalistische Wissenschaft geben?
„Naturalismus“ ist ein vieldeutiges Wort, das ganz verschiedene Begriffe bezeichnen kann. So kann Naturalismus „seit Beginn des 17. Jh. jede Lehre heißen, die in irgendeiner Form die ‚Natur‘ zum Grund und zur Norm aller Erscheinungen, auch in der Geschichte, Kultur, Moral und Kunst, erklärt“ (Gawlik 1984, Sp. 517). Speziellere Naturalismen dieser Art wären u. a. die Thesen, dass logische Gesetze nichts anderes als Denkgesetze sind und damit letztlich psychologische oder gar neurobiologische Gesetze (logischer Naturalismus); dass Erkenntnisprozesse von Organismen und damit Erkenntnis allgemein als rein wissenschaftliche Probleme und somit letztlich ohne Zuhilfenahme einer philosophischen Erkenntnistheorie behandelt werden können (erkenntnistheoretischer Naturalismus);
dass Werte und Normen in der Natur vorgegeben sind oder aus ihr abgeleitet werden können (ethischer Naturalismus); dass Kultur und Gesellschaft keine eigenständigen (emergenten) Eigenschaften haben und so auf Natur reduzierbar und womöglich allein mit naturwissenschaftlichen Methoden verstehbar sind (sozialer oder sozialwissenschaftlicher Naturalismus).
Für die Analyse des Kreationismus und Intelligent Design sowie der Parawissenschaften allgemein benötigen wir jedoch einen anderen Naturalismusbegriff, der von der Richtigkeit oder Falschheit der eben genannten Naturalismen unabhängig ist, nämlich einen ontologischen Naturalismus. (Ontologie = Seinslehre, d. h. die philosophische Disziplin bzw. Theorie, die sich mit den allgemeinsten Charakteristika des Seins und Werdens beschäftigt. Dazu gehören Begriffe wie Substanz, Ding, Eigenschaft, Ereignis oder Kausalität. Für eine Einführung in solche ontologischen Grundkonzepte der modernen Wissenschaft siehe z. B. Mahner, Bunge 2000.)
Dieser ontologische Naturalismus ist zu verstehen als die philosophische These, wonach es in unserem Universum ausschließlich mit natürlichen oder „rechten Dingen“ zugeht. Negativ formuliert: Es gibt darin keine übernatürlichen Wesen, Dinge oder Eigenschaften und daher auch keine Wunder (insofern Wunder eine übernatürliche Verursachung voraussetzen).
Der Ausdruck „mit rechten Dingen zugehen“ ist jedoch vage und entstammt der Alltagssprache, in der wir in etwa wissen, was damit gemeint ist. Die Verallgemeinerung auf die ganze Welt müsste natürlich präzisiert werden, indem die Seinskategorien, die man für zulässig erachtet, genauer ausgeführt werden. Dies kann hier nicht erfolgen. Wir können nur festhalten, dass der Naturalismus – wie auch das Prinzip der Gesetzmäßigkeit – eine der ontologischen Grundannahmen der modernen Wirklichkeitswissenschaften (d. h. Naturwissenschaften, Psychologie und Sozialwissenschaften) ist.
Der ontologische Naturalismus lässt sich in einer schwachen und einer starken Version formulieren (Kanitscheider 1996). Der schwache Naturalismus lässt zu, dass unsere Welt in eine supranaturalistische Welt eingebettet bzw. von einer solchen umgeben sein könnte. Mit anderen Worten: Ein schwacher Naturalismus schließt nicht ausdrücklich aus – nimmt aber auch nicht an – , dass jenseits unserer gesetzmäßigen Welt eine „höhere“ Welt fundamental anderer Natur existieren könnte: eine Übernatur. Er ist damit ein weltimmanenter Naturalismus. Voraussetzung ist lediglich, dass die Natur kausal geschlossen ist, d. h., dass eine solche Übernatur nicht mit der Natur interagiert.
Demgegenüber würde ein starker Naturalismus behaupten, eine Unterscheidung von weltimmanenten und -transzendenten Bereichen sei sinnlos, weil allein der Begriff „Welt“ oder „Kosmos“ oder „Universum“ zu verstehen sei als „alles, was (real) existiert“. Der starke Naturalismus lässt also keinerlei Raum für übernatürliche Wesenheiten und würde positive Gründe dafür einfordern, wenn jemand von der Existenz einer Übernatur ausgehen möchte. Auch würde er fragen, wieso man bei nur einer Übernatur halt machen sollte: Könnten nicht Natur samt Übernatur in eine Über-Übernatur eingebettet sein und so weiter und so fort?
Solange also gute Gründe fehlen oder Begründungen der Kritik nicht standhalten, bleibt für den starken Naturalismus die Übernatur eine beliebige und überflüssige Annahme. Während die Wissenschaften selbst mit einem schwachen Naturalismus auskommen, wird ein über die Einzelwissenschaften hinausgehendes, weil philosophisch erweitertes, naturalistisches Weltbild aus Konsistenzgründen dem starken Naturalismus zuneigen. (Für eine breitere Konzeption des Naturalismus siehe z. B. Vollmer 1995.)
Die Unterscheidung von schwachem und starkem Naturalismus ist nicht identisch mit der von einigen Autoren getroffenen Unterscheidung von methodischem und philosophischem Naturalismus. Dabei soll das Adjektiv „methodisch“ andeuten, dass das ontologische Postulat des Naturalismus keine absolute Gewissheit ausdrückt, wie sie (fälschlicherweise) dem „philosophischen Naturalismus“ unterstellt wird, sondern genauso kritikfähig bzw. hypothetisch ist wie alle anderen Annahmen und Aussagen der Wissenschaft.
Da aber in einer philosophischen Landschaft, in der man sich vom Gedanken der absoluten Gewissheit und der Idee eines sicheren Fundamentes der Erkenntnis ohnehin verabschiedet hat, letztlich alles hypothetisch ist, ist eine solche Kennzeichnung redundant (s. auch Pigliucci 2003). Irreführend schließlich ist es, das vermeintliche Gegenstück des hypothetischen (schwachen oder starken) Naturalismus als „ontologischen Naturalismus“ zu bezeichnen. Als Antithese des Supranaturalismus ist der Naturalismus – sei er schwach oder stark, hypothetisch oder nicht – der philosophischen Klassifikation nach eine ontologische These, weil er ein Postulat über die Beschaffenheit des Seienden ist.
Der Naturalismus ist für die Wissenschaften keine beliebige Setzung, sondern er wird gleichsam von deren methodologischen Prinzipien erzwungen. Wissenschaftliche Hypothesen und Theorien sollen z. B. Überprüfbar sein. Überprüfbar ist aber nur das, mit dem wir wenigstens indirekt interagieren können, und das, was sich gesetzmäßig verhält. Übernatürliche Wesenheiten entziehen sich hingegen per definitionem unserem Zugriff und sind auch nicht an (zumindest weltliche) Gesetzmäßigkeiten gebunden.
Wissenschaftliche Theorien sollen ferner Erklärungskraft besitzen, d. h., sie sollen nicht alles erklären können, sondern nur genau das, was erklärt werden soll. Mit anderen Worten: Nur etwas, das differenziert erklärt, hat Erklärungskraft. Übernatürliche Wesenheiten wie Götter oder Engel und deren Aktivitäten kann man jedoch im Prinzip zur Erklärung von allem und jedem heranziehen. Warum sollte das Fallen des Apfels vom Baum oder das Leuchten der Sonne nicht mithilfe göttlicher Einwirkung erklärt werden?
In der Tat gab es in der Philosophiegeschichte eine Lehre, den Okkasionalismus, demzufolge Gott letztlich die Ursache jeder Veränderung ist, weil die Materie passiv sei und daher unfähig, aus sich heraus etwas hervorzubringen. (Der Okkasionalismus in dieser Form wurde von dem französischen Philosophen und Theologen Nicolas Malebranche, 1638-1715, vertreten.) In diesem Extremfall besteht also kein Bedarf an natürlichen Erklärungsinstanzen. Wir haben es somit beim Okkasionalismus mit einer höchst sparsamen „Erklärung“ zu tun: Eine übernatürliche Ursache erklärt alles!
Wenn wir aber eine solche scheinbar extrem sparsame All-Erklärung aus methodologischen Gründen nicht als Erklärung akzeptieren wollen – unter anderem deshalb, weil es sich bei „Gott“ und „Gott-Materie-Interaktion“ um völlig unbekannte Faktoren bzw. Mechanismen handelt, so dass nicht einmal klar ist, ob und inwiefern sie überhaupt sparsam sind, und weil eine solche Allerklärung nur eine pauschale (undifferenzierte) ist – und wenn wir an der Überprüfbarkeit wissenschaftlicher Hypothesen und Theorien festhalten, dann müssen wir das Sparsamkeitsprinzip mit dem Naturalismus verknüpfen, zu dem wiederum das Prinzip der Gesetzmäßigkeit gehört, welches wiederum nur dann sinnvoll ist, wenn wir zugleich von einem ontologischen Realismus ausgehen. Nur so können wir sparsame und differenzierte Erklärungen aufgrund gesetzmäßiger Eigenschaften der Dinge gewinnen.
Wie am wichtigen Punkt der Prüfbarkeit deutlich wird, sind die Realwissenschaften nicht nur naturalistisch im Hinblick auf ihren Gegenstandsbereich, d. h. die Dinge und Prozesse, von denen ihre Theorien handeln. Vor allem und gerade auch ihre Methoden hängen vom Naturalismus ab: Empirische Daten, bei deren Gewinnung es nicht mit „rechten Dingen“ zugeht, können keine Belegkraft haben und sind damit wertlos. Allgemeine wissenschaftliche Methoden wie (systematische) Beobachtung, Messung und Experiment sowie ihre konkreten einzelwissenschaftlichen Spezifikationen setzen daher ebenfalls den Naturalismus voraus.
Mit anderen Worten: Beobachtung, Messung und Experiment verlieren ihren Status als empirische wissenschaftliche Methoden, wenn sie beliebiger supranaturalistischer Manipulation unterliegen können. Daher kann der Naturalismus nicht mit solchen empirischen wissenschaftlichen Methoden widerlegt werden. Allenfalls könnten sich diese Methoden als unbrauchbar erweisen, etwa indem sie beliebige Daten liefern, die keinerlei Regelhaftigkeit erkennen lassen.
Auch könnte der Naturalismus scheitern, etwa indem wir die Welt plötzlich so vorfänden, wie sie im zeitgenössischen Kino- und Fernseh-Gruselgenre gezeichnet wird, wo Vampire, Dämonen, Erzengel usw. aus und ein gehen und Dinge tun, die man nur als Wunder betrachten könnte. Dem Naturalismus zufolge kann also das Verständnis der Welt nicht über sie hinausführen. Entsprechend ist die Auffassung, wonach wissenschaftliche Methodik ontologisch voraussetzungsfrei sei oder wonach der Naturalismus.
Ein solcher naiver Empirismus findet sich oft im Bereich der Anomalistik bzw. der Parawissenschaften. Doch auch das Anomale und/oder Paranormale wie Telepathie oder Spuk wäre nur dann mit wissenschaftlichen Methoden erforschbar bzw. nachweisbar, wenn es natürlich und gesetzmäßig ist. Wäre das Paranormale hingegen übernatürlich und gesetzlos, dann könnte man mit wissenschaftlichen Methoden keine brauchbaren Ergebnisse erzielen und müsste sich anderen vermeintlichen Erkenntnisweisen zuwenden.
Diese beiden Möglichkeiten spiegeln sich auch innerhalb der Parawissenschaften wider: Die Naturalisten unter ihnen versuchen natürliche Erklärungen für Anomalien zu finden, etwa indem sie auf die Quantenphysik zurückgreifen (wobei dahingestellt sei, wie sinnvoll das ist), während andere den großen und radikalen Paradigmenwechsel herbeisehnen, in dessen Verlauf alle ontologischen Grundbegriffe, wie vor allem der der Kausalität, so lange umdefiniert werden, bis vom Naturalismus nichts mehr übrig bleibt, so dass das Paranormale letztlich ins Übernatürliche umschlägt.
Wir sehen also, warum die Wirklichkeitswissenschaften so hartnäckig am ontologischen Naturalismus samt Sparsamkeitsprinzip festhalten. Denn lassen sie auch nur eine einzige supranaturalistische Ausnahme zu, dann ist der Forderung nach immer stärkerer Erweiterung des Naturalismus in Richtung Supranaturalismus Tür und Tor geöffnet (Kanitscheider 1996). Wir hätten es mit einer schiefen Bahn, wenn nicht gar einem Dammbruch zu tun, der uns im Extremfall einerseits zum Malebranche’schen Okkasionalismus zurückbringen oder andererseits in ein buntes Reich der Beliebigkeiten führen könnte. Denn die Übernatur müsste ja nicht auf Gott beschränkt sein. Es lassen sich beliebig viele übernatürliche Wesenheiten postulieren: Wenn man den Teufel einführt, darf man auch seine Großmutter zulassen usw. usf. Das ist das so genannte Proliferationsproblem des Supranaturalismus. Zudem hatte es die Wissenschaft in ihrer Geschichte schon zu oft mit einem „Lückenbüßer-Supranaturalismus“ zu
tun.
Es bleibt uns daher in den Realwissenschaften nichts anderes übrig, als mit dem schwachen Naturalismus zu beginnen und ihn auszuschöpfen. Erst wenn wir auf dieser Basis kläglich scheitern sollten, wäre das Nachdenken über eine supranaturalistische Erweiterung angezeigt. Das, was daraus entstünde, hätte jedoch vermutlich nichts mehr mit dem zu tun, was wir heute unter Wissenschaft verstehen.
Literatur
Gawlik, G. (1984): Naturalismus. In: Ritter, J., (Hg): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.
Kanitscheider, B. (1996): Im Innern der Natur. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.
Mahner, M., Bunge, M. (2000): Philosophische Grundlagen der Biologie. Springer-Verlag, Berlin.
Mahner, M. (2002): Naturalismus. Naturwissenschaftliche Rundschau 55, 689–690.
Pigliucci, M. (2003): Methodological vs. Philosophical naturalism. Free Inquiry 23(1), 53–55.
Vollmer, G. (1995): Was ist Naturalismus? In: Auf der Suche nach der Ordnung. Hirzel-Verlag, Stuttgart.
Der Beitrag erschien erstmals in: Skeptiker 4/2003.