Wissenschaft und Aberglaube
Band 23 der Reihe „Wissenschaft Bildung Politik“ der Österreichischen Forschungsgemeinschaft.
Herausgeber: Reinhard Neck, Christiane Spiel. Böhlau Verlag, Wien 2020, ISBN 978-3-205-21196-9, € 35,-
„I lass’ mir mein’ Aberglaub’n durch ka Aufklärung raub’n…!“ Dieses pessimistische Zitat von Johann Nestroy im Vorwort der Herausgeber ist noch längst nicht veraltet. Es gilt, Strategien gegen das weit verbreitete abergläubische, magische Denken zu finden, das – als tierisches Erbe unserer Vorfahren – tief in unseren Genen wurzelt.
In der „Wiener Erklärung“ von 2018 wandten sich zehn europäische Rektorenkonferenzen gegen die Tendenz zu magischem Denken und bekräftigten die Grundsätze der Aufklärung und des wissenschaftlichen Diskurses. Auf dem Österreichischen Wissenschaftstag 2019 widmete sich die Österreichische Forschungsgemeinschaft dem Thema Aberglaube und setzte sich mit der damit verbundenen Wissenschaftsfeindlichkeit auseinander. Der vorliegende Sammelband enthält die schriftlichen Fassungen von 10 recht verschiedenen Beiträgen, die sich diesem nach wie vor hochaktuellen Thema widmen.
Lassen sich Wissenschaft und Pseudowissenschaft scharf voneinander abgrenzen? Diese Frage diskutiert der Biologe und Wissenschaftsphilosoph Dr. Martin Mahner auf streng systematische Weise, die alle relevanten Aspekte beleuchtet. Mahner ist Leiter des Zentrums für Wissenschaft und kritisches Denken der GWUP.
Nur eine kleine Minderheit von Wissenschaftsphilosophen, so Mahner, beschäftigt sich noch mit dem „Abgrenzungsproblem“. Die Frage ist, ob man Wörter wie „pseudowissenschaftlich“ und „unwissenschaftlich aus unserem Vokabular streichen sollte, wie das der Wissenschaftstheoretiker Larry Laudan 1983 forderte, weil sie nur der Stimmungsmache dienen.
Nach Mahner ist ein populäres Abgrenzungskriterium Poppers Falsifizierbarkeitsforderung. Sie wurde ursprünglich entwickelt als Antithese zum Verifikationismus des Wiener Kreises, um zwischen Wissenschaft und Metaphysik zu unterscheiden. Aber nicht alles, was falsifizierbar oder bereitsfalsifiziert ist – wie z.B. Astrologie und Homöopathie - kann noch als wissenschaftlich gelten. Poppers Kriterium ist also zu weit gefasst, weil es als falsch erkannte Aussagen zu wissenschaftlichen Aussagen macht. Andererseits gibt es Theorien, die als wissenschaftlich gelten, obwohl sie derzeit nicht empirisch überprüft werden können.
Wie steht es mit der Unterscheidung zwischen guter und schlechter Wissenschaft, wie z.B. der Kalten Fusion und den 1903 „entdeckten“ N-Strahlen, die sich als Ergebnis von Selbsttäuschung herausstellten? Schlechte Wissenschaft gilt immer noch als Wissenschaft, Pseudowissenschaft nicht. Wie aber kann man schlechte Wissenschaft und Pseudowissenschaft von Protowissenschaft und Heterodoxie (wie beispielsweise https://en.wikipedia.org/wiki/Non-standard_cosmology) unterscheiden? Wann schlägt Kritik am Mainstream in Wissenschaftsleugnung um? Haben Pseudowissenschaften überhaupt einen Nutzen oder lösen sie nur Probleme, die es ohne sie gar nicht gäbe?
Welch breites Spektrum an bewährten Indikatoren zur Abgrenzung von Pseudowissenschaft Mahner diskutiert, sei an der Vielfalt der aufgeworfenen Fragen demonstriert:
• Wird rationales Argumentieren akzeptiert?
• Gilt bei der Theoriebildung das Sparsamkeitsprinzip?
• Welchen Stellenwert haben empirische Prüfung und Belege?
• Wie hoch ist die Erklärungs- und Vorhersagekraft der Theorien?
• Wie fruchtbar sind die Theorien?
• Sind die empirischen Daten reproduzierbar?
• Sind die eingesetzten Methoden unabhängig prüfbar?
• Wird Fallibilismus eingeräumt, die Möglichkeit des Irrtums?
• Gibt es Mechanismen zur Fehler- bzw. Irrtumskontrolle?
• Bilden die Befürworter eine „scientific community“?
• Handelt es sich um natürliche und gesetzmäßige Objekte?
• Werden Wissen und Methoden aus Nachbargebieten entlehnt?
• Werden Nachbargebiete bereichert?
• Kollidieren die Behauptungen mit wohlbestätigtem Wissen?
• Ist der Wissensbestand aktuell und wohlbestätigt oder werden anachronistische Paradigmen kultiviert?
• Gibt es einen Zuwachs an Wissen?
• Kann frei bzw. ergebnisoffen geforscht und publiziert werden?
(im Gegensatz zu den ideologisch neutralen Religionswissenschaften trifft das – so der Autor - für die Theologie als „institutionelle Pseudowissenschaft“ nicht zu)
Ein Gegenstück zur Forschungsgemeinschaft sieht Mahner in der Glaubensgemeinschaft, wie man sie z.B. bei der Anthroposophie und der akademischen Parapsychologie findet. Er zeigt, dass eine eindeutige Demarkation durch einzeln notwendige und zusammen hinreichende Kriterien unmöglich ist. Fragwürdig ist auch Poppers Idee, Wissenschafter sollten versuchen eigene Hypothesen zu widerlegen – der „confirmation bias“ ist schwer zu vermeiden. Oft fehlt der Anreiz zu forschen, denn Nobelpreise werden nicht für Widerlegungen verliehen, sondern für neue Beiträge zum Wissensbestand. Schlechte, ideologisch infizierte Wissenschaft wird diskutiert, wie z.B. die Deutsche Physik des Dritten Reichs und der Lyssenkoismus in der damaligen Sowjetunion, die marxistische Alternative zur „bourgeoisen Genetik“.
Abgrenzungskriterien betreffen auch Paradigmen und oft stillschweigend akzeptierte metaphysische Hintergrundannahmen über die Natur der Dinge und darüber, wie Kausalität funktioniert. So analysiert Mahner die kontrovers diskutierte Frage, ob Realwissenschaft nur unter naturalistischen Bedingungen betrieben werden kann.
Pseudowissenschaften werden oft definiert als Bereiche, die fälschlicherweise den Anspruch erheben, Wissenschaften zu sein. Dies wird jedoch dem Spektrum von illusionären Erkenntnisbereichen nicht gerecht. Wie steht es mit Bereichen, die keinen Wissenschaftsanspruch erheben, wie Aberglaube, New Age Esoterik und Okkultismus? Hierfür bietet sich die Bezeichnung „Parawissenschaften“ an. Deren Theorie und Praxis beruht – so Mahner - in wesentlichen Teilen auf illusionärem Denken. Das Gegenstück von Wissenschaft ist demnach nicht die Pseudowissenschaft, sondern die umfangreichere Klasse der Parawissenschaft. Mit Hilfe der Demarkationskriterien werden sowohl die methodologischen Kriterien und der Erkenntnisaspekt analysiert wie auch die Frage nach der Existenz einer Forschungsgemeinschaft und nach der Kohärenz von Behauptungen mit dem wissenschaftlichen Wissensbestand und -fortschritt.
Mahners Fazit: Obwohl Wissenschaften und Parawissenschaften sinnvoll voneinander abgegrenzt werden können, gibt es nicht das eine, alles entscheidende Abgrenzungskriterium. Die Demarkation bleibt unscharf, sie ist aber weder „beliebig“ noch „irrational“.
Die Entwicklung der Wissenschaften im Lichte ihrer Öffentlichkeiten ist das Thema von Dr. Martina Merz, Professorin für Wissenschaftsforschung an der Uni Klagenfurt. Aus der Perspektive der sozialwissenschaftlichen Forschung will sie zeigen, dass Debatten um die Abgrenzung von Wissenschaft und Nichtwissenschaft sich auf die Unterscheidung zwischen den Wissenschaften und ihren verschiedenen „öffentlichen Wahrnehmungen“ konzentrieren. Eine ihrer zentralen Fragen ist: Durch welche diskursiven, materiellen, medialen Praktiken wird welche Art von Öffentlichkeit erzeugt? Mit dem Schwerpunkt eines praxisorientierten Begriffs des Öffentlichen präsentiert die Autorin vier ausgewählte historische Fallgeschichten zur Wissenschaftsentwicklung:
1. Im England des 17. Jahrhunderts, in der Zeit von Galileo, Kepler und Robert Hook, hatte die „öffentliche Bezeugung durch Gentlemen“ größtes Gewicht. Ausgewählte Einzelpersonen bürgten als Zeugen für die Richtigkeit der im Experiment produzierten Ergebnisse. So entstand der moderne Empirismus, ausgehend von der Überzeugung, dass wissenschaftliche Erkenntnis unmittelbar auf sinnlicher Erfahrung gründet und nur aus ihr hergeleitet werden kann. Neben die passive Beobachtung natürlicher Phänomene trat also die aktive Demonstration von Erfahrungstatsachen in öffentlich vorgeführten Experimenten, auf die besonders die Royal Society of London Wert legte. Dort etablierte sich die Praxis, Experimente vor einem Publikum aus sorgsam ausgewählten Beobachtern in Form öffentlicher Demonstrationen durchzuführen. Vertrauenswürdige „Gentlemen“ bürgten als Zeugen für die Richtigkeit der experimentell produzierten Ergebnisse, was auch schriftlich bestätig werden musste. Dank ihrer Ehrenkultur und ihres hohen sozialen Status standen die Zeugen für die Vertrauenswürdigkeit der wissenschaftlichen Ergebnisse ein.
2. Im 18. Jahrhundert war es üblich, wissenschaftliche Erkenntnis z.B. von elektrischen Phänomenen in Form öffentlicher Spektakel darzubieten. Der Status der Naturwissenschaften war aber noch deutungsoffen, es gab keine Grenze zwischen Wissenschaft und Amateurpraxis und keine systematische Aufteilung in Wissenschaftsdisziplinen, in die Herausbildung und Unterscheidung verschiedener Typen legitimer Wissenschaft.
3. Erst im späten 18. Jahrhundert wurde die disziplinäre Struktur der Wissenschaft und der Hochschulen institutionalisiert und organisierte sich in unterschiedliche Disziplinen. Die „vorherrschende Öffentlichkeit“ konzentrierte sich auf disziplinäre Studiengänge und Karrieren, Fachgesellschaften und Fachzeitschriften. Naturwissenschaftliches Arbeiten wurde mit der Idee von Forschung assoziiert, einer ständigen Produktion neuen Wissens, während die Amateurwissenschaft, die im 18. Jahrhundert noch sehr verbreitet und anerkannt war, an Ansehen verlor.
4. Im 20. Jahrhundert zeigte sich das Publikum zunehmend ignorant. Im Verhältnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit entstand ein „increasing gap“, die Laien erlebten ständig wachsende Wissenslücken. Die Autorin argumentiert, dass solche Lücken dem Konzept moderner Wissenschaft in der Tat eingeschrieben seien, was aber nicht impliziere, dass die Wissenschaft auch öffentlich eine Abwertung erfahren müsse. Dennoch sei die Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert zu einer Menge leichtgläubiger, irrationaler und ignoranter Menschen geworden („Defizitmodell der Wissenschaftskommunikation“). Abhilfe schafften Initiativen, die statt auf Informationsvermittlung auf öffentliche Partizipation setzen („Citizen Science“).
Abschließend schildert Merz ein laufendes Forschungsprojekt unter dem Titel „Dynamisierung und Pluralisierung des Verhältnisses von Wissenschaft und Öffentlichkeit“. Darin beschreibt sie, dass ein „erweiterter diskursiver Raum aufgespannt“ wurde, um ein strittiges Messergebnis am Large Hadron Collider (CERN) zu interpretieren. Wäre man nicht zu der Erkenntnis gelangt, dass es sich nur um ein Zufalls-Artefakt gehandelt hat, hätte man irrtümlich angenommen, auf dem Weg zu einer „neuen Physik“ zu sein.
Wie relevant der Beitrag der Autorin für den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt ist, möge der Leser entscheiden. Ja, in der Wissenschaft geht es um unterschiedliche Deutungen experimenteller Ergebnisse, und das ist seriösen Forschern sehr wohl bewusst. Mit dem Thema Wissenschaft und Aberglaube hat der Beitrag aber nicht viel zu tun.
Moderner Aberglaube und seine biologischen Wurzeln, darüber diskutiert Dr. Peter Brugger, Professor für Neuropsychologie und Leiter der neuropsychologischen Abteilung des Universitätsspitals Zürich. Brugger trifft genau das hochaktuelle Kernthema des Österreichischen Wissenschaftstags 2019.
Wieso konnte die Aufklärung den Aberglauben nicht eindämmen, warum blüht abergläubisches Denken inmitten unserer angeblich so rationalen Gesellschaft? Auf der Wahrnehmungsebene favorisierte die Evolution Nervensysteme, die im Hintergrundrauschen auch schwächste Signale bzw. assoziativ kleine statistische Regelmäßigkeiten entdecken. „Zuviel zu sehen ist evolutionsbiologisch weniger folgenreich als zu wenig zu sehen, und Aberglaube ist der Preis, den wir für ein hochsensitives Wahrnehmungs- und Assoziationsvermögen zahlen müssen“.
Welche Hirnregionen erlauben es uns, „zu glauben und zu aberglauben“, etwa an die Existenz paranormaler Phänomene? Wo und wie entsteht die Kardinaleigenschaft abergläubischen Denkens, die fatale Neigung, in zufällig aufeinander folgenden Ereignissen eine geheimnisvolle Kausalität zu sehen? An vielen Beispielen veranschaulicht Brugger den selektiven Vorteil des Bedeutungssehens wie auch dessen mögliche Fehler. Die Fehler des Typs 1 – in bloßem Zufallsrauschen ein bedeutsames Signal wahrzunehmen – wird von der Evolution nur milde bestraft. Fehler des Typs 2 aber – ein bedeutsames Signal zu übersehen – enden oft tödlich. Daher werden Zufallsmuster überinterpretiert und der Aberglaube damit gefördert. Die Häufigkeit des einen Fehlertyps kann aber nur auf Kosten der Häufigkeit des anderen optimiert werden. Übervorsichtig zu sein, ist evolutiv von Nachteil. „Je ausgeprägter der Glaube einer Person an Telepathie, Hellsehen und Präkognition, desto eher wird Zufallsmustern (speziell im linken Gesichtsfeld, das Informationen primär dem rechten visuellen Kortex übermittelt) eine imaginäre Bedeutung zugeschrieben.“
Ausführlich widmet sich Brugger den spannenden Experimenten, die Fehlleistungen bei der Interpretation von Statistiken aufdecken. Koinzidenzen erwecken subjektiv den Eindruck, kein Zufallsprodukt zu sein. Die individuelle Neigung zum Aberglauben lässt sich messen, indem man eine Person Zufallszahlen nennen lässt. Je stärker eine Person an außersinnliche Wahrnehmungen glaubt, desto mehr vermeidet sie dabei Repetitionen!
Auch Tiere bis herunter zu Einzellern und Spermien haben die Neigung, bei Zufallsentscheidungen Koinzidenzen zu vermeiden: Beim Erkunden eines Labyrinths biegen sie bevorzugt abwechselnd einmal links und einmal rechts ab. Ein klassisches Beispiel für Aberglaube bei Tieren sind die Tauben, die der Behaviorist B. F. Skinner in seinen berühmten „Skinner-Boxen“ beobachtete: In unregelmäßigen zeitlichen Abständen erhielten hungrige Vögeln einzelne Futterkörnchen. Rasch lernten sie, das Verhalten, das sie zufällig bei einer Futterspende durchführten, zu wiederholen, beispielsweise Flügelputzen. Jedes Körnchen, das zufällig während des Flügelputzens verabreicht wurde, verstärkte ihren Glauben, dass Flügelputzen zur Futtergabe führt, was wiederum die Flügelputzfrequenz erhöhte und damit auch die Chance, dass das nächste Futterkorn auch wirklich während des Flügelputzens fiel. Ein bestimmtes Verhalten wird so mit einem ganz unabhängigen Zufallsereignis als kausal verknüpft erlebt.
Der Rezensent möchte hier an das besonders eindrucksvolle Beispiel der „abergläubischen Wildgans“ erinnern, das weniger bekannt ist. In einem Vortrag vor der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft in Würzburg erzählte Konrad Lorenz, dass seine Gans einen Umweg, den sie unter vermeintlicher Lebensgefahr zufällig eingeschlagen hatte, künftig immer beibehielt. Unvergesslich, wie Lorenz schilderte, wie die Gans einmal in Eile den rituellen Umweg vergaß und ihn dann unter allen Anzeichen größter Angst nachholte! Der evolutive Vorteil dieses abergläubischen Verhaltens ist offensichtlich: Es ist sinnvoll, eine Verhaltensweise, mit der man eine Gefahr überlebt hat, beizubehalten, ebenso wie einen gewohnten Wildwechsel.
Auch Ratten und Affen ließen sich – so Brugger - zu abergläubischem Verhalten konditionieren, aber auch Menschen, unabhängig von Bildungshintergrund und Alter. Besonders lesenswert sind die höchst bizarren Verhaltensweisen, zu denen Versuchspersonen in der Situation der zufälligen Belohnung konditioniert werden, weil sie das zeitliche Zusammenfallen einer Belohnung mit einem Verhaltenselement irrtümlich als bedeutsam auffassten.
Abergläubische Rituale finden sich in allen menschlichen Sozietäten. Ein indigener Volksstamm, der von der Jagd auf Karibus lebte, entwickelte ein kompliziertes Divinationsverfahren, das zu echten Zufallsvorhersagen führte. Die Herden hielten sich unvorhersehbar an verschiedenen Orten auf, und der Weg der nächsten Jagd wurde aufgrund der Fleckenmuster von Schulterblattknochen eines Karibus bestimmt, die man ins offene Feuer hielt. Die Weissagungen aus den Strukturen auf dem angebrannten Knochen führten lediglich dazu, die Nachteile von Verhaltensstereotypien zu minimieren.
1997 gelang dem Autor der Nachweis, dass der Aberglaube im herkömmlichen Sinne mit Aberglauben im behavioristischen Sinne assoziiert ist: Personen, die abergläubisch durch die Welt gehen, zeigen im Skinner-Versuch ein erhöht abergläubisches Verhalten. In einem genial einfachen Computerspiel zeigte sich, dass im Alltag abergläubische Personen weniger Hypothesen testen als nicht abergläubische, aber gleichzeitig im Nachhinein an mehr vermeintliche Erfolgsstrategien glauben - ohne deren Wirksamkeit während des Spiels ausprobiert zu haben!
Es kann kreativ und evolutionsbiologisch sinnvoll sein, unverstandene Korrelationen wahrzunehmen, die möglicherweise gar nicht vorhanden sind. Erst die Ritualisierung eines ineffektiven Verhaltens und das Beharren auf Wirksamkeit macht den Aberglauben nicht mehr adaptiv. Beharren wir dogmatisch auf Bezügen, die nur wir allein sehen, überschreiten wir den fließenden Übergang zwischen kreativem und wahnhaftem Bedeutungssehen. Das zeigte sich in vielfältiger Weise im Leben von August Strindberg, der in seinen psychotischen Phasen in einer Welt voller sinngebender Koinzidenzen lebte, in der alles mit allem verbunden war („Apophänie“).
Die enthemmte semantische Bahnung, die pharmakologisch beeinflusst werden kann, erklärt das kreative wie auch das apophäne Bedeutungssehen: Wer gar nicht assoziiert, ist kaum kreativ, läuft aber auch nicht Gefahr, sich von Koinzidenzen überwältigt zu fühlen und im Extremfall paranoide Ideen zu entwickeln. Aberglaube und Wahn scheinen – so der Autor - der Preis zu sein, den die Menschheit für ein rasch und über Kategoriengrenzen hinweg assoziierendes Sprachsystem bezahlen muss, für das „Sehen“ eines Signals in semantischem Rauschen. Diese Kreativität ist keine Angelegenheit der rechten Hemisphäre (wie populäre Schriften manchmal glauben machen wollen), aber das Zusammenspiel von links und rechts bestimmt letztlich, ob wir eher zu apophänen Beziehungsstiftungen neigen oder Typ-2-Fehler einem falschen Alarm vorziehen.
Abschließend erläutert der Autor die Beziehungen zwischen abergläubischen und wissenschaftlichen Denksystemen und stellt fest, dass abergläubische Studenten lieber an etwas Bestimmtes glauben als den Glaubensinhalt systematisch zu hinterfragen. Umgekehrt ist das stete In-Frage-Stellen vermeintlich gesicherten Wissens eine unabdingbare Voraussetzung, um auf wissenschaftliche Weise verlässliche Erkenntnisse zu gewinnen. „Wissen ist nie komplett und drängt stets nach weiterem Erkenntnisgewinn. Und hier ist es, wo das abergläubische Element des Sehens von Bezügen wo keine sind, ins Spiel kommt“ – seien es die imaginierten „Kanäle“ auf der Marsoberfläche oder die „Mikrofossilien“, die auf Meteoritenstücken vom Mars gefunden wurden.
Sehr aufschlussreich ist auch die über drei Jahrhunderte währende Geschichte der Auseinandersetzung der Mainstream-Wissenschaft mit der Theorie der Kontinentalverschiebung sowie die fantasievollen Deutungen der „Gehsteig-Obsession“ durch die Psychoanalyse, die der Autor aus gutem Grund für ein klassisches Beispiel wissenschaftlicher Apophänie hält.
The Psychology of Superstition lautet der Titel des von Dr. Stuart A. Vyse verfassten Beitrags. Der Psychologe Vyse ist Dozent für Verhaltensforschung, Buchautor und Fellow des CSI sowie Redaktionsmitglied des Skeptical Inquirer, wo er seit 2015 für die Kolumne „Behavior & Belief‟ verantwortlich ist.
Was ist Aberglaube, woher kommt er und was erhält ihn aufrecht? Obwohl er zweifellos in prohistorischen Zeiten entstanden ist, lässt Vyse ihn erst mit dem Zeitalter der Hochkulturen beginnen. Ursprünglich verstand man darunter nichtautorisierte religiöse Praktiken und generell das magische Denken. Seit der Aufklärung bedeutet Aberglaube eher “schlechte Wissenschaft”. Aber anachronistische religiöse Maßstäbe gelten noch immer: 2019 hat eine katholische Schule im US-Statt Tennessee die Harry-Potter-Bände aus der Schulbibliothek entfernt – nicht weil sie zu magischem Denken verleiten könnten, sondern weil die Zaubersprüche den Leser dem Risiko aussetzen würden, wirklich von bösen Geistern verhext zu werden!
Anhand wohlrecherchierter und zitierter Daten zeigt der Autor, dass in knapp 50% aller westlichen Länder Aberglaube in irgendeiner Form vorliegt, und zwar motiviert von Angst. Denn Aberglaube suggeriert den Menschen, Dinge kontrollieren zu können, die sie nicht unter Kontrolle haben, wie beispielweise bei sportlichen Wettbewerben. Der weltweit verbreitetste Aberglaube ist die Angst vor dem „bösen Blick“, gegen den man sich auf verschiedenste Weise zu schützen versucht.
Vyse definiert den Aberglauben als eine Teilmenge paranormaler Glaubensinhalte, die Glück oder Unheil verheißen und im Widerspruch stehen zu verlässlicher wissenschaftlicher Erkenntnis. Demnach sei beispielsweise der Geisterglaube nicht als Aberglaube zu betrachten, wohl aber die Annahme, Geister könnten bei einer Geldanlage beraten. Auch Religion sei kein Aberglaube, wohl aber der Glaube an Geistheilung. Vyse zitiert Gustav Jahoda, der vier Kategorien unterscheidet: Sozial geteiltes abergläubisches Denken, persönliche Überzeugungen, abergläubische Weltbilder und okkulte Erfahrungen.
Die Aufrechterhaltung von Aberglauben beruht bis heute auch auf machtpolitischen Gründen, denn gegen die Angst vor Dämonen und Hexen bieten die Kirchen noch immer Hilfe durch ihre Exorzisten an. Demografische Analysen zeigen, dass Frauen eher “true believers“ sind und mehr zum Aberglauben neigen als Männer, und Jugendliche eher als ältere Erwachsene. Dies belegt der Autor an vielen aufschlussreichen Beispielen. Menschen, die ungelöste Probleme und widersprüchliche Deutungen von Sachverhalten nicht tolerieren können, billigen in hohem Maß abergläubische Scheinlösungen.
Diskutiert wird auch Skinners berühmtes Konditionierungs-Experiment an Tauben in der „Skinner-Box“ und seine umstrittene Deutung als Beispiel für Aberglaube bei Tieren. Dabei verhalten sich Menschen in ähnlichen Situationen nicht anders. Der zunehmende Trend zur Astrologie, angeschürt durch Smartphone Apps, Websites und Social Media, zeigt, dass die experimentelle Widerlegung astrologischer Aussagen von den Gläubigen ignoriert wird. Kein Wunder, kognitive Verzerrungen (bias) und der Barnum-Effekt halten den Aberglauben aufrecht, verstärken ihn sogar.
Anschaulich schildert der Autor, wie Fehlinterpretationen statistischer Gesetze zu Trugschlüssen bei Glücksspielern führen. Der intuitive Glaube an eine „Glückssträhne“ kommt den Spieler teuer zu stehen. Nach der Theorie der doppelten Verarbeitung besitzen wir zwei getrennte kognitive System: Eines arbeitet schnell, intuitiv und emotional, das andere langsam, logisch und überlegend. Der Autor schildert die Vor- und Nachteile beider.
Der Rezensent möchte ergänzen, dass es - wie Richard Feynman schildert - in Las Vegas erfolgreiche Berufsglückspieler gibt. In präziser Kenntnis der Gewinnchancen spielen sie aber nicht gegen die Glücksspielautomaten oder Roulette-Maschinen, sondern schließen persönliche Wetten mit den anwesenden Glücksspielern ab, die sie dann - im Durchschnitt - gewinnen.
Vyse fasst die Auswirkungen abergläubischen Denkens zusammen. Es vermittelt zwar einerseits das Gefühl, bei Stress erfolgreich mit Unsicherheit und Angst umgehen zu können, andererseits wirkt sich die angstbesetzte Erwartungshaltung gegenüber schwarzen Katzen, der Zahl 13, dem „bösen Blick“ und vielen anderen falschen Assoziationen negativ aus. Diese Art von Aberglauben stirbt nicht aus, solange – heutzutage meist über Internet und soziale Medien - hohe Geldsummen an Geistheiler, Astrologen, Pseudomediziner, „true believers” und Scharlatane fließen, die vorgeben, mannigfaltige hilfreiche Fähigkeiten zu besitzen oder „heiliges Wasser“ zu verkaufen.
Eine Umfrage in den USA zum Thema Autismus zeigte: Je weniger Kenntnis jemand darüber hat, desto sicherer glaubt er mehr zu wissen als die Experten! Eine solche Missachtung der Philosophie der Aufklärung führt zu schwindendem Vertrauen in die Erkenntnisse der Wissenschaft – mit meist katastrophalen Folgen.
Über religionswissenschaftliche Perspektiven von Esoterik und Religion referierte DDr. Franz Winter, Professor für Religionswissenschaft an der Universität Graz. Er betrachtet Esoterik als ein vielfältig schillerndes Etwas, einerseits negativ konnotiert als „unsinnig“, „verschwommen“, „unklar“ oder als geheimer „Okkultismus“, andererseits positiv assoziiert im Kontext aktueller Gegenwartsreligiosität sowie Kunst oder Literatur, wo sie als „geheimnisvoll“, „wahrheitsverheißend“ und „faszinierend“ gilt. Der religionswissenschaftliche Ansatz klammert dabei völlig die Frage aus, ob die postulierten Inhalte „wahr“ oder „falsch“ sind („methodologischer Agnostizismus“).
Im ersten Teil geht es um die klassische Unterscheidung zwischen Religion und Esoterik. Erklärtes Ziel der diversen esoterischen Programme ist introspektiv gewonnene Erkenntnis („Gnosis“): die Einsicht in die vorausgesetzte umfassende Wahrheit, die aber nicht jedem zuteilwird. Dabei geht es um eine fast unüberschaubare Vielfalt von „Erscheinungen“ wie beispielsweise die sogenannte hermetische Tradition der Renaissance, die Naturphilosophie von Jakob Böhme, die Theosophie der charismatischen Russin Helena P. Blavatsky, die Anthroposophie des Rudolf Steiner und um das im 20. Jahrhundert wirkträchtige „New Age“ als global relevante Strömung, einschließlich des heute sehr präsenten Schamanismus als „moderne Populäresoterik“ mit massiver Kommerzialisierung.
Deutlich macht Winter einerseits den religiösen Charakter der esoterischen Tradition, andererseits die Unterschiede zu traditionellen Religionsgemeinschaften einschließlich der neureligiösen Bewegungen („Sekten“). Dass die esoterische Tradition eine Form von Religion ist, wurde in der früheren Forschungsliteratur bestritten. Man zog aus theologischen Gründen oft einen scharfen Trennstrich zwischen beiden und unterschied zwischen „offenbarten“ Religionen und der Esoterik als etwas Selbstgestricktem, als beliebig geclusterte Form von defizienter Religion („Patchwork-Religiosität“ oder „synkretistische“ Religion).
Der Autor schildert, wie eine neue Generation von Forschern seit den 1990er Jahren versucht, das Phänomen der esoterischen Tradition kulturhistorisch einzuordnen. Eine Kardinalfigur der Esoterikforschung wurde der Niederländer Wouter J. Hanegraaff mit seiner Dissertation „New Age Religion and Western Culture“ – einer gründlichen Dekonstruktion des „Offenbarungs“-Begriffs mit seinem Anspruch auf Genuinität der religiösen Tradition. Hanegraaff sieht keinen Grund, den Offenbarungsbegriff nicht genauso auf die New Age Tradition zu übertragen, einschließlich der „Channeling“-Bewegung im 20. Jahrhundert, die eine direkte Kontaktaufnahme zu Wesenheiten einer transzendenten, „jenseitigen“ Sphäre verspricht.
Winter diskutiert die Idee einer globalen Kohärenz religiöser Systeme, die sich in einer vermeintlichen „Mitte“ treffen würden und den eigentlichen Wesenskern „aller“ Religionen ausmachen. Dabei schließt er die „Mystiker“ der abrahamitischen Religionen als “religiöse Virtuosen“ ein, beschreibt Erklärungsmodelle für die Entstehung der Esoterik und untersucht den „Wissenschaftsbegriff“ der Esoterik.
Mit der „Wiederverzauberungsthese“ zeigt er, dass Esoterik einen hohen Anteil an der europäischen Religionsgeschichte hat. „Die Grundthese, die sich mit diesem Forschungsparadigma verbindet, ist die Annahme, dass die Tradition der westlichen Esoterik eine Art Gegenbewegung zur zunehmenden Rationalisierung bzw. „Vernaturwissenschaftlichung“ der Welt ist … bei gleichzeitiger Loslösung von den Mustern der traditionellen Religionen…Einer „Entzauberung“ stellt man eine „Wiederverzauberung“ der Welt entgegen, wo dann wieder „geheime“ und „überirdische“ Kräfte wirken und zudem eine Art Verwobenheit von allem mit allem propagiert wird…“
Im Zentrum stehen Korrespondenzen: Die Idee einer Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos. Hinzu kommt die Annahme einer universellen, feinstofflichen „Lebenskraft“, das Erleben der Transmutation als „zweite Geburt“ und das Erkennen von Konkordanz, der eigentlichen Wahrheit, die unterschiedlichen religiösen und kulturellen Kontexten in Form einer allen Kulturen inhärenten „Ur-Weisheit“ der Menschheit zugrunde liegt. Trotz der grundlegenden, neuzeitlichen „narzisstischen Kränkungen“ des Menschen sind Esoteriker darum bemüht, ihre Welterklärungsmodelle als umfassende Super-Theorien zu präsentieren, wobei sie moderne Naturwissenschaft auf dilettantische Weise integrieren. Das steigert sich bis hin zu der Behauptung „The Hindu initiated Yogi knows really ten times more than the greatest European physicist of the ultimate nature and constitution of light.“
Ein zentrales Moment der religionswissenschaftlichen Esoterikforschung sei – so der Autor - die absolute Indifferenz gegenüber der Frage, ob die Inhalte „wahr“ oder „falsch“ sind. Damit ist dieser Beitrag aus Sicht des Rezensenten kaum mehr als eine breite Schilderung der komplexen Entwicklung esoterischen Denkens. Dem Realwissenschaftler zeigt er auf, wie recht Konrad Lorenz hatte: „Der Mensch ist das Wesen, das den größten Unsinn glaubt.“
Die grundlegende Frage, ob esoterische und religiöse Vorstellungen wahr sind oder nur wilde Fantasieprodukte abergläubischer Menschen, bleibt hier also leider, wenn auch ganz bewusst, außen vor. Dabei wäre es ja durchaus möglich, den nicht nur bei Esoterikern unbeliebten Materialismus zu widerlegen. Dazu würde der Nachweis genügen, dass bei dem Phänomen der out-of-body-experience (OBE) bzw. der Nahe-Tod-Erfahrung (NDE) ein wahrnehmendes Ich den Körper verlassen kann, um dann bei der „Rückkehr ins Leben“ über zutreffende Sachverhalte zu berichten, von denen der – bei der vermeintlichen Trennung zurückgebliebene – Körper nichts wissen kann. Dieser wissenschaftliche Forschungsansatz, die der Rezensent "experimentelle Eschatologie" nennen möchte, wird derzeit in manchen Kliniken aktiv verfolgt, bisher stets mit negativem Ergebnis.
In seinem Beitrag „Homeopathy“ führt uns der Mediziner Dr. Edzart Ernst, em. Professor für Alternativmedizin an der Universität Exeter, zurück auf den Boden der Tatsachen. Er zeigt auf, welche Vor- und Nachteile mit der Homöpathie verbunden sind. Der Fachmann für alternativmedizinische Verfahren (E. Ernst: Heilung oder Humbug? 150 alternativmedizinische Verfahren von Akupunktur bis Yoga, Springer, Berlin 2020) beschreibt und kritisiert die Grundlagen dieses pseudomedizinischen Heilverfahrens, das trotz fehlender Belege der Wirksamkeit weltweit verbreitet ist. Es basiert auf den auftretenden Krankheitssymptomen. Nach dem Begründer Hahnemann besteht eine klassische Behandlung von Heuschnupfen auf einer Zubereitung von Zwiebeln, weil diese die Augen tränen lassen – ein typisches Merkmal dieser Allergie. Im Rahmen der „Potenzierung“ wird die angeblich wirksame Ausgangssubstanz in vielen Stufen verdünnt, oft solange, bis das Mittel bei „Hochpotenzen“ kein einziges Wirkstoffmolekül mehr enthält. Die heilende „Information“ soll aber in dem Verdünnungsmittel (Wasser oder Alkohol) in besonders wirksamer Form erhalten bleiben. Hahnemann bevorzugte die Potenz „C30“, bei der die Muttertinktur 30mal im Verhältnis 1:100 verdünnt wird; das entspricht ungefähr einem Molekül im gesamten Universum.
Neben der klassischen Homöopathie Hahnemanns diskutiert der Autor verschiedene andere Verfahren wie beispielweise Auto-Isopathie mit körpereigenen “Nosoden”, Klinische Homöpathie, Komplexe Homöopathie, die „entgiftende“ Homotoxikologie und die Isopathie, die alle kurz beschrieben werden. Angewandt werden diese Verfahren von ganz verschiedenen Typen von Homöopathen: einer Minderheit von Hahnemann-Gläubigen, von liberalen Homöopathen, Gelegenheits-Homöopathen und “Do It Yourself-Homöopathen”.
Die Grundthesen der Homöopathie sind völlig unplausibel und unvereinbar mit verlässlichen Erkenntnissen der Realwissenschaften. Dennoch ist sie beliebt, denn Homöopathische Behandlungen seien natürlich, kostengünstig, risikofrei, ähnlich wie Phytotherapie, frei von Nebenwirkungen, und sollen auch bei Kindern und Tieren wirksam sein. Alle diese Aussagen sind falsch, werden aber dem leichtgläubigen Publikum auf fast 10 Millionen Webseiten als wahr präsentiert.
Renommierte wissenschaftliche Institutionen in Europa, aber auch anderer Länder wie Australien, Russland, Kanada, USA bestätigen, dass keine Wirksamkeit über Placebo-Effekte hinaus vorliegt. Unübersehbar sind aber die Risiken solcher Scheinbehandlungen. Der Autor schildert ausführlich die gesundheitlichen und ökonomischen Schäden, und dass die Behandlung nicht selten tödlich endet: Wissenschaftsmedizinische Therapien werden versäumt, manche wenig verdünnte Mittel sind hochgiftig, und „homöopathische Impfungen“ täuschen nicht vorhandene Immunisierungen vor. Der bedeutendste Schaden liegt aber darin, dass – entgegen wohlbestätigten Fakten – realwissenschaftliche Erkenntnisse geleugnet werden, und das mit einem fanatischen Eifer, der an Religionskriege erinnert. Dabei wird rationales Denken generell unterminiert. Ernst zitiert Voltaire, der warnte: „Wer Menschen dazu bringt, an Absurditäten zu glauben, bringt sie auch dazu, Gräueltaten zu begehen.“
Der Rezensent möchte ergänzen:
• Homöopathie-Kritiker führen diese Irrlehre regelmäßig ad absurdum mit den Aktionen 10:23, bei denen sie öffentlich Überdosen hochpotenzierter und damit angeblich hochwirksamer Homöopathika schlucken – ohne die spürbaren Wirkungen, die damit verbunden sein sollen.
• Verabreicht man Patienten mit der Nahrung Hochpotenzen ohne ihr Wissen und ohne Wissen des behandelnden Homöopathen, hat dies keinerlei Wirkung.
• Tauscht man die - nach ausführlicher homöopathischer Anamnese ganz individuell ermittelten - Hochpotenzen ohne Wissen von Patient und Homöopath gegen beliebige andere Hochpotenzen aus, hat dies keinerlei Einfluss auf die gesundheitliche Entwicklung.
• Weitere Informationen findet man unter Homöopedia, dem Onlinelexikon des Informationsnetzwerks Homöopathie (INH, www.netzwerk-homoeopathie.eu)
Die Wissenschaft und ihre Grenzen erörtert Dr. Florian Aigner, Physiker und Wissenschaftsredakteur an der Technischen Universität Wien.
Die Grundlagenforschung vieler Wissenschaftssparten, von der Kosmologie bis zur Evolutionsbiologie, lässt uns unseren Platz im Universum besser verstehen: woher wir kommen, wer wir sind und wohin wir gehen. Aigner führt aus, dass wissenschaftliche Erkenntnisse die einzig wirklich verlässliche Basis des menschlichen Zusammenlebens sind. Im demokratischen Diskurs gilt ein wichtiger Grundsatz: Alle Menschen sind gleich wichtig, aber nicht alle Meinungen sind gleich wichtig, denn sie sind unterschiedlich gut begründet.
Wie verlässlich sind wissenschaftliche Erkenntnisse? Mathematische Sätze haben nichts mit unserer Weltanschauung, mit unserer Herkunft oder unseren politischen Ansichten zu tun. Mit Hilfe der Gesetze der Logik gelingt es, auf der Basis einfacher Grundaxiome hochkomplizierte Gedankengebäude zu errichten, die nach Hilbert insgesamt als wahr betrachten werden dürfen. Auch Gödels Unvollständigkeitssatz stellt die Zuverlässigkeit des mathematischen Schließens nicht in Frage. „Mathematik ist das, was nicht anders gedacht werden kann.“
Bei naturwissenschaftlichen Erkenntnissen dagegen ist der empirische Beleg unverzichtbar. Sie lassen sich nicht im mathematischen Sinn beweisen, die Wunschvorstellung des Wiener Kreises lässt sich nicht umsetzen. Aigner diskutiert den Popperschen Falsifikationismus und die Bedeutung von Paradigmenwechseln, wobei er auf die grundlegende Asymmetrie zwischen dem Beweis und der Widerlegung wissenschaftlicher Aussagen hinweist. So gelingt es, Wissenschaft von Pseudowissenschaft voneinander abzugrenzen.
Der Wissenschaftsphilosoph Imre Lakatos unterscheidet zwischen einem harten Theoriekern und „weicheren“ Zusatzannahmen. Während ein naiver Falsifikationismus dazu führt, Lieblingstheorien aufgrund empirischer Ergebnisse bereitwillig über Bord zu werfen, ist es sinnvoll, eine etablierte Theorie zunächst durch Zusatzannahmen zu retten. So führten z.B. die beobachteten Unregelmäßigkeiten in der Bahn des Planeten Uranus, die zunächst unvereinbar schienen mit der Newtonschen Gravitationstheorie, zur Entdeckung von Neptun. Bahnunregelmäßigkeiten des Merkur dagegen ließen sich nicht durch einen zusätzlichen Planeten erklären, sondern nur mit einem radikalen Kuhnschen „Paradigmenwechsel“: der Allgemeinen Relativitätstheorie. Der Autor illustriert anschaulich, dass eine gut bewährte wissenschaftliche Theorie niemals widerlegt wird, sondern höchstens präzisiert: Sie ist also nicht der „Irrtum von morgen“, sondern ihr Spezialfall.
Man kann den Sachverhalt kaum klarer ausdrücken als Aigner es tut: „Es geht darum, mit immer besseren Werkzeugen ein immer größeres Netz an Wahrheiten zu knüpfen, die miteinander in Verbindung stehen…eine wissenschaftlich korrekte Aussage fügt sich in das dicht geknüpfte Gesamtnetz unseres Wissens ein.“ Auch wenn sich einzelne Knotenpunkte dieses Netzes durch neue Erkenntnisse oder durch das Aufdecken von Irrtümern auflösen – ein gutes Netz bleibt auch dann tragfähig und bildet ein großes Ganzes, ohne innere Widersprüche. Das gilt uneingeschränkt auch für den Mikrokosmos, die Quantentheorie, auch wenn wir als Bewohner des Mesokosmos uns bestimmte Phänomene nicht mehr anschaulich vorstellen können.
Die quantenphysikalischen Eigenschaften von Atomen bestimmen ihr chemisches Verhalten, das sich im Labor überprüfen lässt, ebenso wie die Wechselwirkung der Atome mit Licht, was einen ganzen Zoo unterschiedlicher spektroskopischer Messmethoden ermöglicht. All diese Herangehensweisen stützen einander gegenseitig und fügen sich – so Aigner - ohne innere Widersprüche zu einem großen Ganzen zusammen. „Das unterscheidet die Wissenschaft ganz eindeutig von Esoterik, Aberglauben und Pseudowissenschaft: Dort fehlt diese enge Verknüpfung unterschiedlicher Daten und Argumente völlig.“
Es ist also die Vernetztheit von Thesen, Daten und Fakten, die die Wissenschaft vertrauenswürdig und ihre Aussagen hoch belastbar macht. Die Querverbindungen zwischen unterschiedlichen Gedanken, Thesen und Theorien immer weiter zu erhöhen, funktioniert nur durch Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen. „Das bedeutet auch, dass wir Wissenschaft nicht auf die eng begrenzte Community beschränken sollen, in der sie entstanden ist … Wenn die moderne Wissenschaft mit ihrer mittlerweile für Einzelpersonen hoffnungslos unüberschaubaren Komplexität als soziales Spiel verstanden werden muss, dann wird sich der größte Erfolg nur dann einstellen, wenn weite Teile der Gesellschaft Teil dieses sozialen Spiels werden. Daher muss Wissenschaft kommuniziert werden … Wir alle – egal ob wir wissenschaftlich forschen oder nicht – sind in den meisten Fachdisziplinen Laien. Daher muss Wissenschaft Laien zugänglich gemacht werden … Wir müssen erklären, warum die Wissenschaft nicht bloß eine Sichtweise von vielen ist, neben Schamanismus, Astrologie und den wackeligen Behauptungen selbsternannter Wunderheiler, sondern ein zuverlässiges Netz an Wahrheiten, auf das wir uns verlassen können … Die Gesellschaft kann ohne wissenschaftliche Fakten nicht funktionieren …Von der Geometrie der alten Ägypter bis zu modernen Halbleiterchips wurde jede menschliche Kultur maßgeblich von ihrer Wissenschaft und ihrer Technologie definiert … und darauf sollten wir stolz sein.“
Wahr oder falsch? Wissenschaft als Wegweiser aus dem Dickicht der Desinformation ist das Thema von DDr. Ulrich Berger, Professor für Analytische Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien und Präsident der Gesellschaft für kritisches Denken (GkD). An anschaulichen Beispielen beschreibt Berger, dass sich in jedem Jahrzehnt spezifische Formen des Aberglaubens und Pseudowissenschaften entwickeln. Laut Medienberichten leben wir heute in „postfaktischen Zeiten“, die von Fake News, „alternativen Fakten“, gefühlten Wahrheiten und Verschwörungstheorien geprägt sind. Es scheint immer schwieriger zu werden, zwischen wahr und falsch, zwischen echt und unecht, zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu unterscheiden. Dabei geht es nicht um einen Streit von Meinungen, sondern einen Streit um Tatsachen. Das World Wide Web ist da kaum eine Hilfe – für fast alle Tatsachenbehauptungen findet man dort ein Pro und Kontra.
Der Autor führt drei Problemfelder auf, die möglichen Lösungen im Weg stehen:
1. Die Leistungsfähigkeit der wissenschaftlichen Methode wird gewaltig unterschätzt. Schon in den Schulen wird zu einem großen Teil nur Sachwissen gelehrt, aber kaum die Methode, wie dieses Wissen geschaffen wurde. So haben die meisten Menschen keine Vorstellung davon, wie mächtig diese Methode ist, wenn es gilt, Tatsachenbehauptungen zu überprüfen. Dabei ist es so einfach, lehrreiche Aha-Effekte durch einfache Experimente auszulösen, die Berger anschaulich schildert. Für uns Menschen ist es in der Tat eine der bedeutsamsten Erfahrungen zu erleben, in welch unglaublichem Maß wir Selbsttäuschungen unterliegen, von denen wir uns nicht befreien können, weil unser „Bauchgefühl“ rationale Gegenargumente ignoriert.
2. Die Irrmeinung, dass wissenschaftliche Erkenntniss sich dauernd ändere, führt zu einem mangelnden Vertrauen in die Aussagen der Wissenschaft. Sensationslüsterner Wissenschaftsjournalismus gaukelt dem Laien vor, der bisherige Stand der Wissenschaft werde immer wieder mit einem Schlag über den Haufen geworfen. Schuldig sind hier auch Universitäten, die Forschungsresultate in Pressemeldungen übertrieben darstellen, um Aufmerksamkeit zu erregen, und nicht zuletzt kommt es zu Verzerrung bei industriefinanzierten Studien. Die möglichen Fehlerquellen werden ausführlich diskutiert.
3. Es mangelt an Wissen darüber, wo und wie man wissenschaftliche Erkenntnisse findet, denn es gibt kein weltweites Register, das man schnell abfragen könnte. In der Tat ist es meist nicht zielführend, in wissenschaftlichen Datenbanken wie Pubmed, Scopus oder dem Web of Science mittels Stichwortsuche nach einzelnen Studien zu suchen. Verlässlich sind vielmehr die Metaanalysen und entsprechende Übersichtsarbeiten (dabei dient „systematic reviews“ als zusätzlicher Suchterm). Bei Datenbanken, die nicht frei zugänglich sind, kann Google Scholar weiterhelfen. Dieses Suchprogramm unterscheidet aber nicht zwischen seriösen wissenschaftlichen Quellen und Daten aus „Raubjournalen“, deren Hauptfunktion es ist, Artikel, die sich wissenschaftlich geben, unter Umgehung eines echten peer-review-Verfahrens abzudrucken.
Zu den verlässlichsten Sekundärquellen, die online verfügbar sind, führt die gezielte Suche in Wikipedia. Als Zitatquelle in wissenschaftlichen Arbeiten zwar verpönt, liefert diese Online-Enzyklopädie für Laien unschätzbar wertvolle, umfangreiche und präzise Informationen, die auch eine Art peer review passiert haben, sowie Zitate der jeweiligen Primärquellen. Umstrittene Einträge werden ausführlich diskutiert, bevor man sie online stellt.
Psiram ist eine ähnliche Online-Enzyklopädie, die auf Verschwörungstheorien, Esoterik, Alternativmedizin und Pseudowissenschaften spezialisiert ist. Sie reicht in Spezialthemen hinein, die in Wikipedia keinen Platz gefunden haben: Streitfragen an den Grenzen zwischen Wissenschaft, Pseudowissenschaft, Aberglauben und Esoterik, die kritisch beleuchtet werden von der nahezu weltweit aktiven Skeptikerbewegung, der „Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften“ (GWUP) und der österreichischen Regionalgruppe, der „Gesellschaft für kritisches Denken“ (GkD). Hier haben Wissenschaftler und wissenschaftlich interessierte Laien es sich zur Aufgabe gemacht, die Öffentlichkeit kritisch-wissenschaftlich über umstrittene Themen aufzuklären, soweit diese einer wissenschaftlichen Prüfung zugänglich sind. Spezialisierte Wissenschaftsblogs wie die Plattformen scienceblogs.de, scilogs.de und die Seite medizin-transparent.at setzen sich ebenfalls mit solchen Themen auseinander, ebenso wie die Seite von Cochrane Österreich an der Uni Krems.
Die GkD bietet mit der Vortragsreihe „Skeptics in the Pub“ bei freiem Eintritt hochkarätige, aufklärende Vorträge zu Wissenschaftsthemen mit niederschwelligem Zugang zur Wissenschaft an. Dem dient auch der Spottpreis „Goldenes Brett vorm Kopf“, der jeden Dezember an den absurdesten pseudowissenschaftlichen Unsinn des vergangenen Jahres vergeben wird. Berger beklagt, dass dennoch an öffentlichen Institutionen, ja selbst an manchen Universitäten pseudomedizinischer Ramsch unterrichtet wird, obwohl Methoden verfügbar sind, die es erlauben, mit höchster Zuverlässigkeit zwischen wahr und falsch zu unterscheiden.
Verstehen, Vertrauen und die Verständlichkeit der Wissenschaft. Zu einigen Randbedingungen für den (erfolgversprechenden) Umgang mit Pseudowissenschaft und Wissenschaftsleugnung ist das Thema von Dr. Rainer Bromme, Professor für Pädagogische Psychologie an der Uni Münster.
Wissenschaftsleugnung und Pseudowissenschaft sind ein hochaktuelles gesellschaftliches Problem. Wie soll man damit umgehen, wie zwischen Fakten und bloßen Meinungen unterscheiden? Es ist nicht möglich, den Unterschied zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft nur anhand einer vollständigen und notwendigen Menge von rein epistemischen Merkmalen festzustellen. Vielmehr braucht es nach Bromme eine Gruppe von Merkmalen, die je nach Disziplin unterschiedlich zu konkretisieren sind und sich nicht auf nur auf rein normative, wissenschaftslogisch definierte Kriterien beziehen. Danach sind die drei Merkmale pseudowissenschaftlicher Aussagen, dass der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhoben wird, dass die Aussagen unzuverlässig sind, und dass sie auf abweichenden Doktrinen basieren.
Der wesentliche Unterschied zur Wissenschaft liegt in der Qualität der epistemischen Kriterien, so der Autor. Zwischen begründeten Behauptungen (knowledge) und Vermutungen bzw. Überzeugungen (belief) muss klar unterschieden werden, und über das, was als wahr gilt, dürfen keine Vereinbarungen getroffen werden, die empirischen Daten widersprechen.
Es geht also darum Wissen und Glaubensinhalte scharf voneinander zu trennen: „Der Unterschied zwischen Wissenschaft aus der epistemologischen Perspektive auf das Gesamtsystem der Erzeugung und Rechtfertigung wissenschaftlichen Wissens und einer psychologischen Perspektive auf Wissenschaft als individuelle kognitive Repräsentationen besteht also darin, dass die Gewissheit, dass die Geltungsbehauptungen wahr sind, auf unterschiedliche Weise zustande kommt.“ Das trifft zwar zu, aber der Referent fragt sich, ob man das nicht etwas verständlicher ausdrücken kann.
Der Autor macht am Beispiel der Klimaforschung und der Flat-Earth-Theorie die Zusammenhänge zwischen Glaubens- und Wissensannahmen klar, und er analysiert die Rolle der kognitiven Arbeitsteilung bei der Erzeugung von Gewissheit.
In der Praxis sind Laien - bei der Wissenschaft wie auch bei der Pseudowissenschaft - bei vielen Fragen, zu denen „wahre“ Antworten für sie wichtig sind, von epistemischen Autoritäten abhängig. Laien müssen entscheiden, wem sie vertrauen können, um daraus abzuleiten, welche Geltungsbehauptungen sie für zuteffend halten können. Wie gewinnen wir Gewissheit über das, was „wahr“ ist? Hierfür schildert der Autor verschiedene Anhaltspunkte:
• Die unmittelbar wahrgenommene Erfahrung ist in Übereinstimmung mit dem, was wir bereits zu wissen glauben. Wir sind „epistemische Individualisten“, d.h. wir prüfen bei einer Geltungsbehauptung erst einmal spontan, ob sie mit unseren bereits bestehenden Überzeugungen zusammenpasst.
• Hilfreich ist „erlebtes Verstehen“: Kausalerklärungen in Geltungsbehauptungen lösen den subjektiven Eindruck einer Einsicht aus, bzw. ein Verstehenserlebnis.
• Unerlässlich ist das Vertrauen in fachkundige Experten und deren Integrität.
Das Wissen, das in der allgemeinbildenden Schule vermittelt wird, sollte – so Bromme - verständlich und beispielhaft für den Wissensbestand sein und auch die Grenzen des rationalen Überzeugens in der Sache aufzeigen. Aufschlussreich ist, dass die Akzeptanz von pseudowissenschaftlichen Überzeugungen mit einer Tendenz zur Projektion von Kausalbeziehungen korreliert - auch dort, wo keine Kausalität vorhanden ist. Eine Variante der Wissenschaftsleugnung besteht darin, der Wissenschaft ihren abstrakten Charakter und ihren Abstand zu der Alltagserfahrung vorzuwerfen und im Kontrast dazu auf die eigene, sinnliche Erfahrung zu verweisen.
Im letzten Beitrag mit dem Thema Pseudo-Wissenschaften als Symptom zeigt Dr. Eva Horn, Professorin für Germanistik an der Uni Wien, dass die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Aberglauben eigentlich eine Frage nach zwei „Wissensformen“ ist: eine, die den Standards wissenschaftlicher Qualität genügt und eine, die dies nur vorgibt. Pseudo-Wissenschaft ist ein System von Aussagen, das wissenschaftliche Sprache benutzt, logisches Schließen vorschützt und oft - nicht selten ideologisch - auf einen ganzheitlichen, spirituellen Theorierahmen verweist, der prägnant und einleuchtend scheint.
Gegen die Pseudo-Wissenschaften spricht nicht nur deren interne mangelnde epistemische Qualität; ihre Aussagen sind in sich inkonsistent, zirkelschlüssig und nicht belegbar. Den pseudowissenschaftlichen Diskurs der Klimaskeptiker schildert die Autorin als Beispiel für die Gefährlichkeit der Pseudo-Wissenschaften. Die seriöse Wissenschaft wird dabei gegen ihr Selbstverständnis politisiert oder ideologisiert und ist in Gefahr, sich in den komplizierten Theorien, deren Abstraktheit und in der Unanschaulichkeit ihrer Daten zu verlieren. Damit würde sie gesellschaftlich und politisch irrelevant. In der Tat macht man sich oft nicht einmal mehr die Mühe, mit Wissenschaftlern zu diskutieren. Die Kultur des Postfaktischen legt immer weniger Wert auf belastbare Fakten, wissenschaftlich untermauertes Wissen oder Korrektheit. In seinem Buch „On Bullshit“ prangert der Philosoph Harry Frankfurt an, dass „Fake news“, „alternative Fakten“, Verschwörungstheorien und andere „post-faktische“ Strömungen mit einer Kakophonie aus individueller Meinung, Facebook-Gerüchten oder Besserwisserei die Autorität wissenschaftlicher Expertise unterminieren. Anders als in jeder Pseudo-Wissenschaft wird nicht mehr argumentiert, sondern einfach nicht mehr zugehört.
Die Autorin schildert die immensen aktuellen Probleme, vor die uns das neue Zeitalter des Anthropozäns stellt. Die Wissenschaften fast aller Disziplinen sind aufgefordert, dazu Stellung zu beziehen und nach Lösungen zu suchen. Forschungsbiotope, die um kleine, hochspezialisierte Fächer entstehen, liefern dagegen Ergebnisse, die der breiten Öffentlichkeit kaum mehr zu vermitteln sind. Kulturelle Prozesse müssten stattdessen auf ihre ökologischen und materiellen Voraussetzungen hin untersucht werden. Es braucht eine Geschichte des Wissens, die die epistemischen Grundlagen des Anthropozäns gleichermaßen aus Sicht der Geistes- und der Naturwissenschaften beleuchtet.
Trotz der angestrebten „Interdisziplinarität“ gibt es noch immer die alten Vorurteile: Geisteswissenschaftler hielten Naturwissenschaftler für unintellektuelle Nerds, Naturwissenschaftler Geisteswissenschaftler für verquaste Schwätzer. Stattdessen ist Multidisziplinarität gefordert: nicht nur unter Beibehaltung der jeweiligen Fachperspektive Forschungsergebnisse auszutauschen, sondern an gemeinsamen Fragestellungen zu arbeiten und sich einer gemeinsamen Realität von verschiedenen Seiten zu nähern.
Seit der Neuzeit versteht sich die Naturwissenschaft als neutrale Beobachterin der Welt, sie produziert „matters of fact“. Daher rührt das dezidiert unpolitische Selbstverständnis der Naturwissenschaften. Seit der Mensch sich selbst als Naturgewalt verstehen muss, ist dieses traditionelle Selbstverständnis nicht mehr haltbar – es geht um „matters of concern“. Daher benötigen die Geisteswissenschaften eine erweiterte Geschichtsschreibung („Environmental Humanities“), die die kurzen Zeiträume menschlichen Handelns in die viel längeren Kontexte einer Geschichte der Ökosysteme und des Klimas stellt und die Verwobenheit des Lokalen mit dem Globalen berücksichtigt. „Die großen begrifflichen Keulen, die von Sozial- und Geisteswissenschaftlern gern geschwungen werden, wie etwa „der Kapitalismus“, „das Westliche Denken“ oder „die Moderne“, sind dabei kaum hilfreich“, so Horn. Im gemeinsamen Interesse an der erdgeschichtlichen Epoche des Anthropozäns müssen alle Fächer miteinander ins Gespräch kommen. Die postfaktische Gleichgültigkeit gegenüber Wissen und Expertentum muss überwunden werden. Es gilt, neue gemeinsame Fraugestellungen oder Begrifflichkeiten zu entwickeln, aus dem jeweiligen Fachjargon auszubrechen und Dinge so zu erklären, dass auch fachfremde Kollegen sie verstehen.
Alle Beiträge des sehr lesenswerten und informativen Sammelbandes enthalten zahlreiche einschlägige Literaturhinweise und ausführliche Vitae der Autorinnen und Autoren. Dass sich überzeugte „Querdenker“ durch die vorgelegten rationalen Argumente eines Besseren belehren lassen, ist – leider – nicht zu erwarten.
Dr. Rainer Wolf