Stuart Vyse
Die Angewandte Verhaltensanalyse (Applied Behavior Analysis, ABA) ist von allen Therapien bei Autismus die bestbelegte und, besonders in den USA, die am weitesten verbreitete. Dennoch steht sie im Mittelpunkt von scharfer, teils ideologischer Kritik. Der Psychologe Stuart Vyse erläutert im Folgenden die Grundlagen und Ansätze von ABA. Und er wirft einen Blick auf die Hintergründe und Motivationen der Gruppen, die ABA kategorisch ablehnen.
Über die psychologische Therapie, die als Angewandte Verhaltensanalyse (ABA) bekannt ist, lassen sich zwei scheinbar widersprüchliche Aussagen treffen:
- Sie ist die wohl bestbelegte und am weitesten verbreitete Therapie bei Autismus, insbesondere in den Vereinigten Staaten.
- Von allen Therapien bei Autismus erfährt sie die meiste Kritik.
Bei ABA handelt es sich um eine Therapieform, bei der Belohnungen, Verstärkung und (sehr selten) Bestrafungen eingesetzt werden, um adaptives Verhalten zu fördern und die Neigung zu schädigendem oder maladaptivem Verhalten zu verringern. Sie geht auf den vom amerikanischen Psychologen B. F. Skinner entwickelten Behaviorismus zurück und wird seit über 50 Jahren in der Behandlung von autistischen Kindern und Erwachsenen angewandt. In den USA erfährt ABA als Intervention bei Autismus-Spektrum-Störungen
(ASD) Unterstützung durch zahlreiche Berufsverbände, die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) und Interessengruppen von Autistinnen / Autisten. Auf der Website des CDC heißt es: „Für verhaltenstherapeutische Ansätze [Anm. d. Autors:einschließlich ABA] liegen die meisten Belege für eine Behandlung der Symptome von ASD vor. Unter Pädagogen und Angehörigen der Gesundheitsberufe sind sie weithin akzeptiert und finden Anwendung in vielen Schulen und Behandlungszentren.“ Hinzu kommt der hohe Professionalisierungsgrad der Anbieter von ABA-Therapien, so gibt es einen Zertifizierungsprozess und einen Ethikkodex (siehe Behavior Analyst Certification Board). Doch andererseits führen Kritiker dramatische Berichte über Missbrauch und Traumatisierung von Kindern durch ABA-Therapien an.
Im vorliegenden Artikel werde ich versuchen, diesen verwirrenden Umstand näher zu erläutern. Er lässt sich nach meiner Einschätzung teilweise durch eine verständliche Reaktion auf den marktbeherrschenden Anbieter erklären. Dennoch muss man viele Attacken als Teil einer größeren politischen Bewegung auf dem Gebiet Autismus betrachten, die die ABA zum Ziel ihrer Angriffe hat.
Wenn die Größe zum Problem wird
Viele Menschen begegnen großen, einflussreichen Organisationen mit Misstrauen und nehmen an, dass ihre öffentlichen Äußerungen auf Gewinnmaximierung beziehungsweise Machterhalt abzielen. Regierungen sind bereits seit langem Ziel derartiger Angriffe, und in letzter Zeit werden auch Pharmaunternehmen („Big Pharma“) auf diese Weise verunglimpft, sowohl von der politischen Linken wie auch der Rechten. Natürlich ist Skepsis grundsätzlich eine gute Sache, doch unbegründete Kritik ist keine Skepsis.
Das Äquivalent zu Big Pharma oder „Big Government“ auf dem Gebiet der Autismusbehandlung – in den USA und weltweit – ist die angewandte Verhaltensanalyse (Applied Behavior Analysis, ABA).
Ole Ivar Lovaas veröffentlichte 1987 in einem angesehenen amerikanischen psychologischen Journal eine fachlich begutachtete Studie, der zufolge nach einer intensiven Frühintervention mit ABA 47 Prozent der Teilnehmer ein typisches intellektuelles und schulisches Funktionsniveau erreichten. 1993 folgte die Veröffentlichung der Memoiren von Catherine Maurice, „Let Me Hear Your Voice: A Family’s Triumph over Autism“ (dt.: „Ich würde euch so gern verstehen“, Bastei Lübbe 2000), in dem die Autorin über die erfolgreiche Behandlung ihrer beiden autistischen Kinder durch ABA berichtet. Das Buch war deshalb besonders einflussreich, weil sie ABA anfangs für mechanistisch und wenig ansprechend gehalten und es daher zunächst mit mehreren anderen Therapien versucht hatte, bevor sie sich ABA zuwandte und feststellte, dass diese bei ihren Kindern bemerkenswerte Verbesserungen bewirkte.
In den folgenden Jahren stieg die Nachfrage nach ABA dramatisch an, und bis heute ist sie die am weitesten verbreitete Therapie für Kinder mit Autismus in den USA. Eine Studie aus dem Jahr 2016 ergab, dass etwa 70 Prozent der 3- bis 17-Jährigen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASD) irgendeine Form von verhaltensanalytischer Therapie erhalten haben, entweder ausschließlich oder kombiniert mit einer medizinischen Behandlung (Xu et al. 2019). Deshalb existieren heute zahlreiche Anbieter, die ABA für Kinder mit Autismus, ihre Eltern und für Schulen offerieren. Wo viel Umsatz gemacht wird, gibt es mit gewisser Wahrscheinlichkeit auch irreführende Werbung und eigennützige Behauptungen.
Interessenkonflikte
Am Schluss des vorliegenden Artikels habe ich eine Erklärung über meine möglichen Interessenkonflikte als Autor in Bezug auf dieses Thema angefügt. Ich tat dies, weil Kritiker seit geraumer Zeit behaupten, dass bei ABA-Forschern nicht offengelegte Interessenkonflikte bestünden, die möglicherweise ihre wissenschaftlichen Ergebnisse beeinflussen. So berichteten Kristen Bottema-Beutel und Shannon Crowley 2021 in einem Artikel mit dem dramatischen Titel „Pervasive Undisclosed Conflicts of Interest in Applied Behavior Analysis
Autism Literature“ (dt.: „Weit verbreitete, nicht offengelegte Interessenkonflikte in der Literatur zur angewandten Verhaltensanalyse im Bereich Autismus“) über die Ergebnisse einer Google-Suche nach Autoren und Autorinnen von Zeitschriftenartikeln über Forschung zu ABA. Sie kamen zu dem Schluss, dass es nach ihrer Ansicht zahlreiche Interessenkonflikte
gebe, die zum überwiegenden Teil nicht durch die Autoren offengelegt seien. Zwar räumen Bottema-Beutel und Crowley ein, dass das Vorliegen eines Interessenkonflikts nicht zwangsläufig bedeutet, die betreffende Studie sei parteiisch. Dennoch stellt ein Interessenkonflikt eindeutig die mögliche Quelle für unbeabsichtigte Voreingenommenheit dar. Angesichts dieser Anschuldigungen möchte ich klarstellen, dass in meinem Fall keine Interessenkonflikte vorliegen. Ich hoffe, der Rest dieses Artikels wird Leserinnen und Leser von meinem Bemühen um größtmögliche Objektivität überzeugen.
Gleichwohl teile ich die Bedenken von Bottema-Beutel und Crowley hinsichtlich der Interessenkonflikte. Dem amerikanischen Schriftsteller Upton Sinclair wird der Ausspruch zugeschrieben: „Es ist schwierig, einen Menschen dazu zu bringen, eine Sache zu verstehen, wenn sein Gehalt davon abhängt, dass er sie nicht versteht.“ Viele psychologische Fachzeitschriften verlangen inzwischen von ihren Autoren, potenzielle Interessenkonflikte – vor allem finanzieller Art – offenzulegen; diese und andere Praktiken werden auch vom Committee on Publication Ethics (einer gemeinnützigen Organisation für ethische Belange im wissenschaftlichen Publikationswesen, d. Red.) befürwortet. Nach meiner Überzeugung könnten Forschende bei Offenlegung potenzieller Interessenkonflikte in allen Bereichen noch erheblich bessere Arbeit leisten.In Anbetracht des enormen Umfangs der Forschungsdaten zu ABA bezweifle ich jedoch, dass hier eine wesentliche Beeinträchtigung durch Interessenkonflikte vorliegt.
Eine kürzlich erschienene Veröffentlichung mit dem Titel „Exploitation, Freedom, and Coercion: The Integration of Applied Behavior Analysis in a Capitalist System“ (dt.: „Ausbeutung,
Freiheit und Zwang: Die Integration der angewandten Verhaltensanalyse in ein kapitalistisches System“) verdeutlicht die Besorgnis einiger Verhaltensanalytiker über den Interessenkonflikt, der sich aus der Stellung der ABA innerhalb des kapitalistischen Gesundheitssystems der USA ergibt. Besonders besorgniserregend ist dieses Problem vor dem Hintergrund, dass Kapitalbeteiligungsgesellschaften in letzter Zeit damit begonnen haben, Dienstleistungen im Bereich ABA anzubieten (Garner et al. 2022). Die Autoren äußern die Sorge, dass die Qualität von ABA-Diensten durch Einsparmaßnahmen beeinträchtigt wird, und bieten Strategien zur Vermeidung negativer Auswirkungen an. All dies illustriert die Besorgnis einiger Verhaltensanalytiker über die Folgen von Profitstreben – eines besonders starken Interessenkonflikts – auf die Qualität der Behandlung.
Autismus und Politik
Die weitaus wichtigere Erklärung für die Angriffe auf ABA geht zurück auf eine neuere soziale Bewegung auf dem Gebiet Autismus. Früher betraf die Diagnose Autismus in erster Linie Menschen mit schweren kognitiven und verhaltensbezogenen Defiziten. Sie zeigten häufig Probleme in der Kommunikation, und viele waren nicht in der Lage, ein selbständiges Leben zu führen. Die 2013 erschienene Ausgabe des Handbuchs Diagnostic and Statistical Manual der American Psychiatric Association (APA) hat jedoch schwerste Formen von Autismus mit dem weitaus milderen Asperger-Syndrom unter einer gemeinsamen Bezeichnung,Autismus-Spektrum-Störungen (ASD), zusammengefasst.
Kinder und Erwachsene, die nicht sprachen, inkontinent waren und den Kopf wiederholt an harten Gegenständen stießen, erhielten mit einem Mal die gleiche Diagnose wie hochfunktionale Autistinnen und Autisten, bei denen man zuvor das Asperger-Syndrom diagnostiziert hatte. Die APA unterschied drei Autismus-Stufen, die von „Unterstützung erforderlich“ bis „sehr umfangreiche Unterstützung erforderlich“ reichten (American Psychiatric Association 2013, 52), doch für alle galt die Bezeichnung „autistisch“.
Über die Implikationen des Konzeptes Autismus-Spektrum habe ich ausführlich in der Zeitschrift Skeptical Inquirer (Vyse 2022) geschrieben. Eine Gruppe von Menschen am milderen
Ende des Spektrums hat vor einiger Zeit die Bezeichnung „autistisch“ angenommen und sich zu einer Social-Justice-Bewegung zusammengeschlossen. Bedeutendster organisatorischer Akteur ist der Zusammenschluss Autistic Self-Advocacy Network (ASAN). Auf seiner Website erkennt ASAN Autismus als Behinderung an, behauptet aber, dass Autismus nicht beseitigt oder gelindert werden müsse. Vielmehr sieht sich ASAN als Teil der Behindertenbewegung (disability rights movement), die sich für die Akzeptanz von Menschen engagiert, die anders sind – das Prinzip der Neurodiversität –, und dafür, dass Menschen mit Autismus die benötigte Unterstützung erhalten. Ihr Motto „Nichts über
uns ohne uns“ drückt die Forderung aus, autistische Menschen in politische Entscheidungen einzubeziehen, die sie betreffen. Vieles hiervon macht einen bewundernswerten Eindruck und findet breite Zustimmung, jedoch stößt man auch auf repressive Ansichten, die über keinerlei Evidenzbasierung verfügen.
Beispiele sind die Behauptung, dass Autismus nicht behandelt werden sollte und könne, und die Ablehnung von ABA. Der Abschnitt „What we believe“ auf der ASAN-Website enthält die folgende Aussage: „ABA und andere Therapien mit denselben Zielen können Autisten schaden, und sie vermitteln uns nicht die Fähigkeiten, die wir benötigen, um uns in der Welt mit unseren Behinderungen zurechtzufinden“ (im Original: „ABA and other therapies with the same goals can hurt autistic people, and they don’t teach us the skills we actually need to navigate the world with our disabilities.“). Dies ist eine ziemlich pauschale Aussage über eine Therapieform, die seit einem halben Jahrhundert erforscht und praktiziert wird.
Die Stimmen der Selbsthilfebewegung kommen überwiegend vom milderen Ende des Spektrums. Personen am gravierenden Ende des Spektrums haben oft tiefgreifende Kommunikationsprobleme und ganz andere Bedürfnisse als diejenigen, bei denen früher das Asperger-Syndrom diagnostiziert worden wäre. Zudem besteht bei den meisten Eltern von Kindern mit schwerem Autismus keine Bereitschaft, ihre Söhne und Töchter so zu akzeptieren, wie sie sind, und auf die am weitesten verbreiteten evidenzbasierten Therapien
zu verzichten. Die Stimmen der Selbsthilfebewegung sind so laut geworden, dass eine Gruppe von Eltern und Fachleuten in den USA kürzlich den National Council on Severe Autism (NCSA) gegründet hat. Dieser Zusammenschluss legt, im Gegensatz zu ASAN, den Schwerpunkt auf Behandlung und Intervention: „Personen und Familien, die von schwerem Autismus und verwandten neurologischen Entwicklungsstörungen betroffen sind, leiden aufgrund von störenden und gefährlichen Verhaltensweisen sowie emotionalem, physischem
und finanziellem Stress oft unter einer stark eingeschränkten Lebensqualität.“(im Original: „Individuals and families affected by severe autism and related neurodevelopmental disabilities often suffer very low quality of life due to disruptive and dangerous behaviors and emotional, physical, and financial stress.“).Das Thema Autismus hat nicht zuletzt eine starke Politisierung erfahren, weil Menschen mit sehr unterschiedlichen Fähigkeiten über einen Kamm geschoren werden.
Ist ABA Missbrauch?
Zur Beantwortung dieser Frage werde ich im Folgenden einige Fakten darlegen:
- Missbrauch: ABA ist seit mehreren Jahrzehnten eine verbreitete Therapie. Sie wurde von tausenden Therapeuten zur Behandlung von hunderttausenden Kindern und Jugendlichen angewandt. Wie in Medizin, Psychiatrie und vielen anderen Berufsfeldern, gibt es auch hier Beispiele von Missbrauch und Fehlverhalten, und bestätigte Fälle können an Berufsverbände und staatliche Gesundheitsbehörden herangetragen werden. Das Behavior Analyst Certification Board nimmt über seine Website Berichte über Verstöße gegen die Berufsethik entgegen und veröffentlicht die Namen von Fachleuten aus den USA und Kanada, denen die Zulassung entzogen wurde. Der Verlust der Zulassung führt häufig zum Verlust des Arbeitsplatzes.
- Elektroschocks: Einige ABA-Kritiker erwähnen die Anwendung von schmerzhaften Elektroschocks, die sie als grausam und missbräuchlich betrachten. In der Frühzeit
der ABA setzten Lovaas und andere Forscher Elektroschocks bei Kindern mit Autismus als Bestrafung ein, um die Häufigkeit bestimmter Verhaltensweisen zu reduzieren
(Lichstein, Schreibman 1976), doch seit den 1960er und 1970er Jahren hat sich das Gebiet weiterentwickelt. Heute werden alle Formen von Bestrafung weitestmöglich reduziert. Im Ethikkodex für Verhaltensanalytiker (Ethics Code für Behavior Analysts) des BACB heißt es in Abschnitt 2.15, dass Verhaltensanalytiker „restriktive oder auf Bestrafung basierende Verfahren nur dann empfehlen und anwenden, wenn nachgewiesen wurde, dass die gewünschten Ergebnisse nicht mit weniger einschneidenden Mitteln erreicht
werden konnten, oder wenn ein bestehendes Interventionsteam zu dem Schluss kommt, dass das Risiko einer Schädigung des Klienten das mit der verhaltensverändernden Intervention verbundene Risiko überwiegt“ (S. 12, im Original: „recommend and implement restrictive or punishment-based procedures only after demonstrating that desired results have not been obtained using less intrusive means, or when it is determined by an existing intervention team that the risk of harm to the client outweighs the risk associated with the behavior-change intervention“). Werden Fälle von Missbrauch aufgedeckt, gibt es Mechanismen der Verfolgung und Aufarbeitung. Heutzutage kommt es äußerst selten zur Anwendung von Elektroschocks, und selbstverständlich bedarf bei Kindern mit Autismus jegliche Bestrafungsmethode der Zustimmung durch Eltern oder Erziehungsberechtigte.
- Berichte über Missbrauch und posttraumatische Belastungsstörung (PTBS): Von Neurodiversitäts-Aktivisten wird ABA seit einiger Zeit als missbräuchlich bezeichnet,
und kürzlich sind entsprechende Artikel in Peer-review-Journalen erschienen (z. B. Leaf et al. 2021; Sandoval-Norton et al. 2021). Drei neuere, ebenfalls fachlich begutachtete
Studien dokumentieren angeblich Symptome von PTBS (Kupferstein 2018) und Missbrauchsberichte von Personen, die zuvor eine ABA-Behandlung erhalten haben (Anderson
2022; McGill, Robinson 2021). Nach meiner Einschätzung ist die Qualität dieser Studien so fragwürdig, dass ich mir eine eingehende Diskussion ihrer Methodik für einen separaten Artikel im Skeptical Inquirer vorbehalten möchte. Einige Punkte seien dennoch an dieser Stelle erwähnt. Der erste Punkt betrifft die beiden Studien, die direkte Aussagen von Teilnehmern enthalten, die als Kinder mit ABA behandelt wurden. Sie scheinen so konzipiert zu sein, dass man gezielt nachPersonen gesucht hat, die ihre frühere
Behandlung als missbräuchlich erlebt haben. Der Aufruf zur Teilnahme an der Studie von Anderson (2022) erfolgte auf den Facebook-Seiten des Autistic Self-Advocacy Network – einer Gruppe, die sich gegen den Einsatz von ABA ausspricht – und des Academic Autism Spectrum Partnership in Research and Education (AASPIRE), das laut eigener Website „eine langjährige Beziehung zum Autistic Self-Advocacy Network unterhält“. Des Weiteren scheint bei der Autorin des Artikels, der einen Zusammenhang zwischenABA-Behandlung und PTBS-Symptomen aufzeigt, offenbar ein erheblicher, nicht offengelegter Interessenkonflikt zu bestehen (Kupferstein 2018). Im Artikel bezeichnet sie sich lediglich als „unabhängige Forscherin“, laut ihrer Website bietet sie jedoch als Psychologin Musiktherapie für Menschen mit Autismus an. Zudem ist sie Anhängerin der Rapid-Prompting-Method (RPM), einer Form der zutiefst zweifelhaften Kommunikationstechnik Facilitated Communication (Vyse 2018). Abschließend sei erwähnt, dass sich alle drei Studien zwangsläufig auf diejenigen Menschen im Autismus-Spektrum beschränkten, die über eine ausreichende Sprachfähigkeit verfügten, um interviewt zu werden oder Fragebögen auszufüllen. Jüngsten Schätzungen zufolge gelingt es etwa 30 Prozent der Kinder mit Autismus nicht, gesprochene Sprache zu erwerben (Tager-Flusberg, Kasari 2013). Gerade diese Kinder bedürfen in besonderem Maß der ABA-Therapie, und ihre Eltern gehören zu den stärksten Befürwortern von ABA und anderen empirisch validierten Autismus-Therapien.
Schluss
Interessenkonflikte entkräften nicht zwangsläufig Forschungsergebnisse, und jeder Fall von Missbrauch durch einen Therapeuten ist inakzeptabel. Hingegen ist die pauschale Aussage, dass ABA missbräuchlich sei, eindeutig durch keinerlei Belege gestützt. Wer derartige Behauptungen aufstellt, vertritt nach meiner Einschätzung eine Ideologie und keine Tatsache. Es ist bedauerlich, dass sich diese Ideologie auf sprachfähige Personen beschränkt. Darüber hinaus haben ihre Aussagen eine gewaltige Tragweite für Eltern von Kindern, die nicht sprechen können. Um ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und Autonomie zu erlangen, benötigen diese Kinder dringend eine Unterstützung durch evidenzbasierte Therapien. Das Thema Autismus befindet sich in der Gewalt einer sozialen Bewegung, die es offenbar für akzeptabel hält, dass Menschen am milderen Ende des Autismus-Spektrums für diejenigen am gravierenden Ende sprechen, und die glaubt, dass die Menschen an den entgegengesetzten Enden des Spektrums gleiche Bedürfnisse haben.Nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein.
Erklärung zu Interessenkonflikten: Vor mehr als 40 Jahren arbeitete der Autor in der Autismustherapie mit Methoden der angewandten Verhaltensanalyse, seitdem ist er jedoch nicht mehr in diesem Bereich tätig. Zudem hielt er bis vor etwa 15 Jahren als Hochschulprofessor Lehrveranstaltungen im Zusammenhang mit ABA ab. Er hat keine Interessenkonflikte und wurde für das Schreiben dieses Artikels nicht bezahlt.
Übersetzung: Inge Hüsgen
Stuart Vyse
war langjähriger Professor für Psychologie am Connecticut College. Er arbeitet als Redakteur für die Zeitschrift Skeptical Inquirer, für die er die Kolumne „Behavior & Belief“ schreibt. In deutscher Sprache erschien sein Buch "Die Psychologie ds Aberglaubens. Schwarze Kater und Maskottchen" (Springer 2014),
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Erschienen in: Skeptiker 4/2022, S. 158 - 162