Eine Parawissenschaft (gr. para: neben) ist ein außerhalb der Wissenschaften (aber nicht unbedingt außerhalb des Universitätsbetriebes) angesiedelter Erkenntnisbereich, dessen Theorie und Praxis weitgehend auf illusionärem Denken beruhen. Damit kann der Anspruch eines solchen Erkenntnisunternehmens, verlässliches Wissen über Welt oder Mensch zu erlangen oder erlangt zu haben, nicht eingelöst werden. Demgegenüber können andere nichtwissenschaftliche Erkenntnisbereiche, wie etwa die Alltagserkenntnis, durchaus verlässliches Wissen produzieren. Wird neben dem einfachen Erkenntnisanspruch auch der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhoben, bezeichnet man eine Parawissenschaft als Pseudowissenschaft.
In der Alltagssprache sowie in der internationalen Literatur ist das Wort „Pseudowissenschaft“ (engl. pseudoscience) häufiger anzutreffen als „Parawissenschaft“, wobei es je nach Kontext im engeren oder weiteren Sinne verwendet wird. „Parawissenschaft“ ist daher eine neuere, an die Bezeichnung „Parapsychologie“ angelehnte Wortbildung, die es erlaubt, den Begriff „Pseudowissenschaft“ auf seine engere Bedeutung zu beschränken. Für welche Terminologie man sich letztlich entscheidet, spielt keine Rolle, solange die Begriffe sinnvoll und konsistent definiert sind. Viele Para- bzw. Pseudowissenschaften verfolgen vornehmlich praktische Ziele und können daher auch als Para- bzw. Pseudotechnologien bezeichnet werden.Damit ein vermeintlicher Erkenntnisbereich, den wir als Kandidaten für eine Parawissenschaft betrachten, nicht vorschnell oder unrechtmäßig in diese Kategorie eingeordnet wird, müssen dessen Aussagen und Methoden sorgfältig untersucht werden. Dazu bedarf es verschiedener Kriterien zur Unterscheidung bzw. Abgrenzung von Wissenschaft und Parawissenschaft. Solche Kriterien zu formulieren, ist eine Aufgabe der Wissenschaftsphilosophie.
Nun ist es jedoch unter Wissenschaftsphilosophen weitgehend Konsens, dass es einen Satz notwendiger und zugleich hinreichender Abgrenzungskriterien nicht gibt. Mit anderen Worten: Es gibt kein Allzweckkriterium bzw. eine kleine Zahl von Allzweckkriterien, die auf alle Kandidaten für Parawissenschaften anwendbar sind und zu einer klaren und eindeutigen Abgrenzung führen.
Zum Beispiel wird Karl Poppers berühmtes Falsifizierbarkeitskriterium zwar oft als notwendig akzeptiert, es ist aber nicht hinreichend. So sind etwa viele Aussagen der Astrologie über den Zusammenhang von Tierkreiszeichen bzw. Planeten und menschlichen Charaktereigenschaften falsifizierbar und vielfach in statistischen Studien falsifiziert, aber die Astrologie kann aus vielen anderen Gründen nicht als Wissenschaft betrachtet werden. Falsifizierbarkeit ist demnach weder das einzige noch ein hinreichendes Kriterium, nach dem Parawissenschaften von Wissenschaften unterschieden werden können. Ähnlich steht es mit anderen Einzelkriterien, wie etwa der Forderung nach Anwendung wissenschaftlicher Methoden. In der heutigen Parapsychologie etwa werden häufig untadelige Methoden angewandt, ohne dass sie dadurch verlässliche Erkenntnisse hervorgebracht hätte. Sie gilt deshalb und aus verschiedenen anderen Gründen nach wie vor als Pseudowissenschaft. Die Anwendung wissenschaftlicher Methoden scheint demnach wiederum ein zwar notwendiges Kriterium zu bilden, aber kein hinreichendes.
Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass oft unklar ist, was genau als parawissenschaftlich betrachtet wird. Das Etikett „parawissenschaftlich“ wird einzelnen Methoden, einzelnen Hypothesen (Aussagen), ganzen Theorien (Aussagesystemen) oder ganzen Bereichen bzw. Disziplinen angeheftet. Je nach Analyse-Ebene werden dann unterschiedliche Abgrenzungskriterien zur Anwendung kommen müssen. Erklärungskraft etwa kann man von Theorien einfordern, nicht aber von Methoden. Und untersucht man eine ganze Disziplin, so kann man auch psychologische und soziologische Aspekte berücksichtigen, was bei einer Theorie als abstraktem Objekt sinnlos wäre. Dazu würde beispielsweise die Frage gehören, ob der betreffende Bereich tatsächlich aus einer Gruppe Forschung betreibender Personen besteht oder nur aus Einzelpersonen, die jede auf ganz unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichem theoretischen Hintergrund eine bestimmte Praxis ausübt, wie es z.B. bei den Wünschelrutengängern der Fall ist. Oder haben wir es nur mit einem „Meister“ und einer Gruppe von Anhängern zu tun, die lediglich dessen Lehren unkritisch nachbeten oder anwenden (Bsp. Anthroposophie)?
Eine Untersuchung, ob ein bestimmter Erkenntnisbereich eine Parawissenschaft darstellt, wird also auf einen vielfältigen Katalog von Kriterien zurückgreifen müssen, von denen in jedem Einzelfall andere zum Tragen kommen können. Entsprechend kann die Begründung für die Bewertung eines Bereiches als einer Parawissenschaft im Fall A durchaus anders ausfallen als im Fall B. Einige Beispiele für solche Kriterien:
- Mit welchen Objekten beschäftigt sich die zu untersuchende Disziplin? Mit konkreten materiellen) oder immateriellen (spirituellen)? Werden diese Gegenstände gesucht, um Erklärungen für bestimmte Beobachtungen zu gewinnen oder nur um vorgefertigte Meinungen zu stützen? Sind diese Gegenstände spezifisch genug, um die Daten zu erklären, oder würde ein beliebiges anderes Objekt die gleiche Erklärungsleistung erbringen?
- Kann frei geforscht werden oder werden die Resultate von einer Autorität vorgegeben? Ist der Bereich ideologisch motiviert?
- Welche philosophischen Hintergrundannahmen werden vorausgesetzt? Die Annahmen, die in den Realwissenschaften vorausgesetzt werden (z.B. Gesetzmäßigkeitsprinzip, Kausalitätsprinzip, Sparsamkeitsprinzip, Fallibilismus usw.), unterscheiden sich zum Teil drastisch von denen der Parawissenschaften.
- Wie sieht der Wertekanon des Bereichs aus? Jede wissenschaftliche Disziplin verfügt über einen Kanon von Werten bzw. Normen, die ihrer Theorie und Praxis zugrunde liegen. Dazu gehören: a) logische Werte: Widerspruchs- und Zirkelfreiheit, b) methodologische Werte: Prüfbarkeit, Erklärungskraft, Vorhersagekraft, Fruchtbarkeit, c) Einstellungswerte: kritisches Denken (statt Leichtgläubigkeit), Objektivität.
- Ist der Bereich wenigstens ansatzweise an Disziplinen, die wohlbestätigtes Wissen bereithalten, angebunden? Wird von Wissen aus Nachbardisziplinen Gebrauch gemacht? Bereichert er andere wissenschaftliche Disziplinen? Oder steht der Bereich isoliert da?
- Gibt es einen gut bestätigten und wohlformulierten Wissensbestand? Ist dieser aktuell oder veraltet und damit anachronistisch? Würde die Wahrheit der in dem betreffenden Bereich vertretenen Theorien die Falschheit eines Großteils der wissenschaftlichen Theorien zur Folge haben?
- Wird versucht, echte Erkenntnisprobleme zu lösen oder nur selbst erfundene? Ergeben sich die Fragestellungen in dem betreffenden Bereich auf natürliche Weise aus der Forschung oder werden sie künstlich herbeigesucht, um sich selbst Beschäftigung zu verschaffen? Mit anderen Worten: Werden nur Probleme gelöst, die man ohne den Bereich gar nicht hätte?
- Welche Methoden und Techniken werden benutzt? Sind diese in ihrer Funktion unabhängig prüfbar und erklärbar? Sind sie objektiv in dem Sinne, dass jeder kompetente Anwender in etwa die gleichen Ergebnisse damit erzielt?
- Ist in dem Bereich ein Erkenntnisfortschritt, ein Wissenszuwachs, festzustellen oder stagniert er?
Mithilfe dieser und weiterer Kriterien lässt sich in aller Regel eine wohlbegründete Entscheidung treffen, ob ein Erkenntnisbereich den Parawissenschaften zuzurechnen ist oder nicht. Auch wenn eine solche Beurteilung nicht in jedem Fall zu einem eindeutigen Ergebnis führen mag, bleibt sie eine rational vertretbare und gut begründete Abgrenzung. Ein Erkenntnisbereich, der nur zu 70 bis 90 Prozent der zur Analyse genutzten Kriterien nicht erfüllt, kann immer noch zu Recht als Parawissenschaft betrachtet werden.
Dr. Martin Mahner
Literatur:
- Mahner, M. (2007): Demarcating Science from Non-Science. In: T.A.F. Kuipers (Hg.) General Philosophy of Science – Focal Issues. (Bd. 1, Handbook of the Philosophy of Science), S. 515-575. North Holland: Amsterdam.
- Mahner, M. (2009): Was sind Parawissenschaften? Der Versuch einer Neubestimmung. In: Skeptiker 4/2009, S. 186-190.
- Vollmer, G. (1993): Wozu Pseudowissenschaften gut sind. In: ders., Wissenschaftstheorie im Einsatz. Hirzel-Verlag: Stuttgart 1993. Auch in: Skeptiker 4/94, S. 94-101.
- Wilson, F. (2000): The Logic and Methodology of Science and Pseudoscience. Canadian Scholars' Press: Toronto.