Sind Haie gegen Krebs immun? Alternativmedizin versus Artenschutz
Erich Eder
The shark seems to have a perfect immune system, not known to become ill or contract cancer. It never sleeps, it always moves. The shark is one of the oldest existing species on earth, seemingly immortal. (Der Hai scheint ein vollkommenes Immunsystem zu haben; soweit man weiß, bleibt er von Krankheiten und Krebs verschont. Er schläft nie, ist immer in Bewegung. Der Hai ist eine der ältesten noch lebenden Arten auf Erden und wirkt schier unsterblich.)
(Werbung für ALKYROL®, Fa. Reach4Life)
Unsere Drogistin, gleich ums Eck, ist ein Schatz: Bei Frau Trude bekommt man neben den üblichen Drogeriewaren auch Biogemüse, Obst, frisches Brot, Milchprodukte und, ungefragt, Ratschläge für alle Lebenslagen. Da nimmt man es schon auf sich, nach dem Sternzeichen gefragt zu werden, wenn man ein Toilettenspray kaufen möchte. Als überzeugter Skeptiker antworte ich meist mit "Großer Affe". - "Ach, im chinesischen Horoskop?"
Seit kurzem gibt es bei Frau Trude auch Haifischknorpel-Extrakt zu kaufen. Nicht als Heilmittel, versteht sich, sondern als "gesunde Nahrungsmittelergänzung", weil man sonst mit der Gesundheitsbehörde Scherereien bekommt, erzählt sie freimütig einer Kundin am Telefon. Gleich daneben ist aber ein Buch im Schaufenster postiert, das den Zweck des Produkts klarmacht: "Warum Haie gegen Krebs immun sind" (Lane und Comac 1994).
Gleich vorweg: Haie sind nicht immun gegen Krebs. Gute Zusammenfassungen über die Krebsraten bei niederen Wirbeltieren geben bereits die Artikel von Schlumberger und Lucke (1948!) und Wellings (1969). Darüber hinaus wird seit 1965 an der Smithsonian Institution bzw. seit 1995 am George Washington University Medical Center kontinuierlich an der "Registry of Tumors in Lower Animals" (RTLA) gearbeitet. Zwischen 1965 und 1991 verifizierte der Direktor der RTLA, John Harshbarger, an Elasmobranchiern (Haien und Rochen) folgende Tumoren:
- Retikulumzellsarkom (malignes Lymphom)
- Schwannom (Neurinom)
- Choroidpapillom (Hirnkarzinom)
- Cholangiom (Gallengangkarzinom)
- Chondrom (Knorpelsarkom)
- Renales Adenokarzinom (Nierenkarzinom)
- Epidermalpapillom (Hautpapillom)
- Seminom (Hodentumor)
- Hepatozytenadenom (Leberzellkarzinom)
Immerhin, so Carl A. Luer, Leiter des meeresbiochemischen Forschungsprogramms (Marine Biomedical Research Program) am Mote Marine Laboratory (Florida), scheint die Krankheitsrate von Haien und Rochen niedriger zu sein als bei höheren Fischen. Im Vergleich mit dem Immunsystem höher entwickelter Tiere wurden sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede in der genetischen Organisation der Immunglobuline gefunden (Litman 1996). "Die Annahme aber, das Immunsystem der Elasmobranchier sei besser als das unsrige, ist sicherlich ohne jede wissenschaftliche Basis", stellt Luer (1999) fest.
Aber selbst wenn Haie immun gegen Krebs wären: Wieso sollte die Einnahme ihrer Knorpel oder anderer Körperteile Krebs heilen oder vorbeugen? Würde man etwa durch das Verspeisen von Albert Einsteins Gehirn zum Genie? Worin unterscheidet sich derartige "Alternativmedizin" vom hierzulande heftig bekämpften, mittelalterlich anmutenden Aberglauben der Chinesen, geriebene Rhinozeroshörner oder Tigerzähne hülfen gegen Impotenz?
Man schätzt, dass bisher mehr als 50 000 Amerikaner Haifischknorpel-Produkte konsumiert haben. Zahlen aus Europa sind mir nicht bekannt. Durch anekdotische Erfolgsberichte gaukelt die Werbung eine krebsheilende Wirkung dieser Pulver und Tabletten vor. Die Medizin nahm diese Berichte ernst: Erst kürzlich wurde die bisher größte klinische Studie über die onkologische Wirksamkeit von Haifischknorpeln veröffentlicht (Miller et al. 1997). Bei dieser an der Cancer Treatment Research Foundation (Cancer Treatment Centers of America, Illinois) durchgeführten klinischen Doppelblindstudie an 58 freiwilligen Patienten mit Brust-, Darm-, Lungen-, Prostata- und anderen Karzinomen konnte aber keinerlei Effekt der Haifischknorpel-Präparate auf die Patienten und/oder Tumore festgestellt werden.
Haie sind fast so "in" wie Dinosaurier. Tatsächlich üben die urtümlichen Fische auf jeden Betrachter eine enorme Faszination aus. Sie scheinen an ihre Umwelt "perfekt angepasst" zu sein (ein evolutionsbiologischer Widerspruch in sich) und sind, seit Jahrmillionen im Bauplan fast unverändert, sozusagen "lebende Fossilien". Die Elasmobranchier bestehen natürlich nicht, wie fälschlich im Einleitungszitat behauptet, aus einer einzigen Spezies und sind auch bei weitem nicht die älteste noch lebende Tiergruppe. Auf Grund der fehlenden Schwimmblase schwimmen manche Arten auch im Schlaf (wenn sie sich nicht, wie die Rochen, auf den Boden legen), was nicht heißt, dass sie nicht schlafen. Einige Arten wühlen im Boden nach Kleintieren, andere sind spezialisierte Jäger. Ausgerechnet der größte unter ihnen, der Walhai (Rhincodon typus), lebt ausschließlich von Plankton.
Aber spätestens seit Steven Spielberg gelten Haie als böse, obwohl nur einige wenige Arten dem Menschen gefährlich werden können. Die Tatsache, dass ausgerechnet der Menschenhai oder Weißhai (Carcharodon carcharias) mittlerweile auf der Roten Liste der gefährdeten Tierarten steht (Hudson und Mace 1993) und in manchen Ländern bereits streng geschützt ist (Flaherty 1997), entlockt selbst aufgeklärten Zeitgenossen nur ein Schulterzucken. Haie sind eben nicht lieb und daher, anders als etwa der herzige WWF-Pandabär, nicht als Sympathieträger ("flagship-species", New 1993) für das Artenschutz-Fundraising geeignet. Streicheltiere schützt man gerne - aber Killerhaie? Es stellt sich die Frage, wer gefährlicher ist: der menschenfressende Hai oder der "haifischfressende Mensch" (Youth 1992).
Tatsächlich ist der internationale Handel nachweislich eine der Hauptursachen des weltweiten Rückgangs vieler Haiarten (Camhi 1997, TRAFFIC 1996). "Die irrige Annahme, Haifischknorpel seien ein brauchbares Mittel gegen Krebs, ist in einigen Regionen bereits ein ernstzunehmendes wirtschaftliches Motiv für die verstärkte Befischung von Haien geworden", schreibt mir George H. Burgess (1998), Vizepräsident der Shark Specialist Group der SSC/IUCN. (Die Species Survival Commission der International Union for the Conservation of Nature and Natural Resources ist eine Teilorganisation der Vereinten Nationen und unter anderem für die Erstellung der weltweiten Roten Listen gefährdeter Tier- und Pflanzenarten zuständig.) Dass Haie "ohnehin" wegen ihrer Flossen gejagt werden, ist kein Argument: Jede zusätzliche Nachfrage führt zu ungeahnten Synergien, von der Fischerei bis zur Vermarktung der Produkte. Auf Grund ihrer Gefährdung wurden bereits mehrere Haiarten für eine Aufnahme in die CITES-Listen des Washingtoner Artenschutzabkommens vorgeschlagen (Camhi 1997); es ist jedoch fraglich, welche Schäden die Überfischung bereits angerichtet haben wird, wenn die Einschränkungen des internationalen Handels mit Haiprodukten endlich in Kraft treten.
Der Verkauf medizinisch nachweislich wirkungsloser Präparate wird oft damit gerechtfertigt, dass diese zumindest nicht schaden. Gerade der vorliegende Fall zeigt deutlich, dass das beliebte österreichische Sprichwort "Nutzt's nix, schadt's nix" nicht immer stimmt. Abgesehen von der finanziellen Schädigung des Konsumenten und dem (im Skeptiker bereits mehrfach erläuterten) "Nocebo-Effekt" kann die angeblich so naturnahe Alternativmedizin sogar zum Aussterben bedrohter Tierarten beitragen. Wir werden ja sehen, ob Frau Trude nach der Lektüre dieses Artikels die Haifischknorpel aus ihrem Angebot nimmt.
(Anschr. d. Verf.: Institut für Zoologie, Univ. Wien, Althanstr. 14, A-1090 Wien)
Literatur
- Burgess, G. H. (1998): Re: shark protection. E-mail vom 23. 12. 1998, ID-Nr. <3.0.1.32. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!>
- Camhi, M. (1997): Sharks and CITES - an update. IUCN Shark News 9 (Online-Ausgabe)
- Flaherty, T. (1997): White shark protection agreed in South Australia. IUCN Shark News 9 (Online-Ausgabe)
- Hudson, E. und G. Mace (Hrsg., 1996): Marine Fish and the IUCN Red List of Threatened Animals. Report of the workshop held in collaboration with WWF and IUCN at the Zoological
- Society of London from April 29th - May 1st, Gland, Switzerland: International Union for the Conservation of Nature (IUCN)
- IUCN/SSC Shark Specialist Group Homepage: www.flmnh.ufl.edu/fish/organizations/ssg/ssgdefault.html
- Lane, W. und L. Comac (1994): Warum Haie gegen Krebs immun sind. Neue Erkenntnisse im Kampf gegen Tumore und Metastasen. Ullstein TB, Berlin
- Litman, G. (1996): Sharks and the Origins of Vertebrate Immunity. Scientific American 275/5, 67-71
- Luer, C. A. (1999): Re: shark protection/cancer quackery. E-mail vom 4. 1. 1999, ID-Nr. <Pine.WNT.3.95. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!>
- Mestel, R. (1996): Sharks' Healing Powers. Natural History 105/9, 40-47
- Miller, D. R., Granick, J. L., Stark, J. J. und G.T. Anderson (1997): Phase I/II trial of the safety and efficacy of shark cartilage in the treatment of advanced cancers. Annual meeting of the American Society of Clinical Oncology 1997, Abstract 173
- New, T. (1993): Angels on a pin: dimensions of the crisis in invertebrate protection. Amer. Zool. 33, 623-630
- Schlumberger, H.G. und B. Lucke (1948): Tumors of Fishes, Amphibians, and Reptiles. Cancer Research 8, 657-754
- TRAFFIC Report (1996): The World Trade in Sharks: A Compendium of TRAFFIC's Regional Studies, Volume I. TRAFFIC International, Species in Danger Series, Cambridge, United Kingdom
- Wellings, S. R. (1969): Neoplasia and Primitive Vertebrate Phylogeny: Echinoderms, Prevertebrates, and Fishes - A Review. Natl. Cancer Inst. Monogr. 31, 59-128
- Youth, H. M. (1992): Shark-Eating Man. World Watch 5/2, 7-9
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 2/2000.