Kugelblitze - Ein Phänomen zwischen Physik und Folklore
Alexander Kendl
Kugelblitze sind sphärische Leuchterscheinungen von in etwa Fußballgröße, über welche berichtet wird, dass sie, meist im Umfeld eines Gewitters, lautlos für einige Sekunden durch die Luft schweben könnten. Nahezu alles Wissen über dieses Phänomen ist anekdotisch und beruft sich auf Augenzeugenberichte. Fotografisches oder filmisches Bildmaterial ist spärlich und meist unbefriedigend. So ist es zu erklären, dass die eigentliche Natur dieser Erscheinung bislang unbekannt ist. Im Folgenden werden der momentane Stand der Forschung skizziert und einige neuere theoretische Erklärungsversuche vorgestellt.
Im Grunde gilt heute nach wie vor, was der spätere sowjetische Nobelpreisträger Piotr Kapitza bereits vor einem halben Jahrhundert festgestellt hatte: „Die Natur des Kugelblitzes ist bisher noch rätselhaft. Dies ist dadurch zu erklären, dass der Kugelblitz eine seltene Erscheinung ist, und da bisher nichts darüber gemeldet wurde, dass es gelang, das Auftreten eines Kugelblitzes unter Laboratoriumsbedingungen überzeugend darzustellen, ist er also auch keiner systematischen Untersuchung unterworfen worden" (Kapitza 1955). Aufgrund der mittlerweile sehr großen Anzahl an berichteten Beobachtungen wird dennoch allgemein davon ausgegangen, dass es sich beim Kugelblitz um ein reales physikalisches Phänomen handelt. Andererseits leidet die Charakterisierung seiner Eigenschaften an der grundsätzlichen Unzuverlässigkeit von Augenzeugenberichten. Aussagen über Leuchtkraft, Größe, Lebensdauer oder Umstände des Erscheinens solcher Feuerkugeln weisen breite Streuungen auf. Es erscheint unsicher, ob dies auf die Flexibilität des physikalischen Phänomens an sich oder auf Fehldeutungen anderer optischer atmosphärischer Erscheinungen als Kugelblitz bzw. auf optische Täuschungen bei einem Teil der Beobachtungen zurückzuführen ist. Theorien über die Natur des Kugelblitzes gibt es in vielfältigen Ausführungen, von teils gewagten bis zu ganz plausiblen Annahmen. Dennoch konnten Laborexperimente zu einigen der vorgebrachten Modelle auch bis heute bestenfalls Teilaspekte der Erscheinung von Kugelblitzen demonstrieren und müssen nach wie vor als unbefriedigend angesehen werden. Einen guten Überblick über den Stand der Erkenntnis bis etwa vor zwei Jahren gibt das Kompendium von Mark Stenhoff (1999). Dies wird im Folgenden kurz skizziert und um die Darstellung einiger neuerer, zum Teil durchaus vielversprechender Arbeiten ergänzt. Sowohl in Stenhoff (1999) als auch in Protasevich (2000) findet sich eine umfangreiche aktuelle Bibliographie (mit über 2400 Einträgen) zu Kugelblitzen.
Phänomenologie einer atmosphärischen Erscheinung
„Ich möchte Ihnen von einem Erlebnis mit einem Kugelblitz erzählen, als ich zwischen drei und vier Jahre alt war. Heute bin ich 49. Die Erinnerung erscheint mir wie gerade erst von gestern. Meine Tante öffnete während eines Gewitters die Hintertür, und ich erinnere mich, wie eine Kugel direkt an ihr vorbei schwebte. Ich war im Wohnzimmer etwa vier bis sechs Meter entfernt, und sie begann auf mich zuzuschweben, und ich erinnere mich, wie meine Tante mich anschrie, die Kugel nicht zu berühren. Sie schwebte etwa 60 Zentimenter über dem Boden und legte knapp einen halben Meter in der Sekunde zurück, schätze ich. Sie kam mir bis auf 60 Zentimenter nahe, und als sie das Wohnzimmer erreichte, bog sie nach rechts ab und nochmal nach rechts und dann die Treppe rauf. Ich schätze, sie folgte dem Luftzug im Haus. Als die Kugel nahe bei mir war, konnte ich kleine, wie ein „S" geformte Dinge von ihr wegspringen sehen. Wenn ich mich auf mein Gedächtnis verlassen kann, dann war sie weiß mit etwas orange und blau darin..." (Zangla 1998).
Wie dieses Beispiel oder ähnlich klingen viele Kugelblitzberichte. Von nicht wenigen Beobachtern wird die Erscheinung sehr emotional wahrgenommen, da sie sich bewusst sind, Zeugen eines doch sehr ungewöhnlichen und vielleicht sogar lebensgefährlichen Ereignisses geworden zu sein.
Es liegt in der Natur von Augenzeugenberichten, dass ihre Auswertung aufgrund der Anfälligkeit von Menschen für optische Täuschungen, Fehleinschätzungen und Erinnerungsfehlleistungen mit Bedacht angegangen werden muss (vgl. Wolf 1999, Hell 1999). Über viele Jahrzehnte wurden mehrere Tausend Erscheinungen dokumentiert, welche von den Augenzeugen selbst als so genannter Kugelblitz identifiziert wurden. Ausgehend von diesen Datensätzen wurden statistische Analysen über die beobachteten Charakteristika angefertigt. Viele Kugelblitzforscher betonen jedoch heute, dass solche „lexikografischen" Auswertungen zwar die Eigenschaften von Kugelblitzberichten wiedergeben, jedoch nicht unbedingt die von tatsächlichen Kugelblitzereignissen (Stenhoff 1999): Wenn sich nur ein Teil der Berichte auf andere atmosphärische Erscheinungen oder auf Täuschungen bezöge, welche von unerfahrenen Beobachtern fälschlicherweise als Kugelblitz identifiziert wurden, dann seien die statistischen Daten unbrauchbar. So wird es als wesentlich relevanter angesehen, die wenigen verlässlichen, detailliert beschriebenen Sichtungen als Grundlage für physikalische Erklärungsversuche heranzuziehen.
Bezüglich einer Reihe konsistenter charakteristischer Eigenschaften sind sich die Forscher jedoch einig (Singer 1971, Stenhoff 1999): Nahezu alle Sichtungen finden im Umfeld eines Gewitters (Abb. 1) statt. Meist ereignet sich unmittelbar zuvor ein Blitzeinschlag in den Boden. Kugelblitze werden im Freien, seltener auch in geschlossenen Räumen und sogar im Inneren von Flugzeugen beobachtet. Etwa neun von zehn Zeugen beschreiben die Sichtung als nahezu sphärische Kugel, abweichend wird von Ellipsoiden, Ringen und unregelmäßigen Formen berichtet. Der Durchmesser beträgt in den meisten Fällen etwa 10 bis 50 Zentimeter. Die Sichtungsdauer beträgt meist einige (zwei bis fünf) Sekunden, wobei die Lebensdauer durchaus größer sein kann, da Entstehung oder Zerfall oft nicht beobachtet werden. Die Kugel leuchtet gleichmäßig und hell genug, um bei Tageslicht deutlich sichtbar zu sein. Bemerkenswerterweise wird die Bewegung als weitgehend horizontal beschrieben, wogegen von einer Gaskugel mit einer Temperatur, die zur Leuchtkraft von Kugelblitzen konsistent ist, eher ein Aufsteigen gleich einem Heißluftballon zu erwarten wäre. Theoretische Modelle zur Natur des Kugelblitzes sollten also alle oder zumindest die meisten dieser Eigenschaften erklären können. Ausgeklammert werden für die Modellbildung meist die seltenen Sichtungen von eher exotischem Charakter, bei denen etwa davon berichtet wird, die Blitzkugeln könnten sogar feste Körper wie Wände oder Glasscheiben durchdringen. Berichte von Schäden und Verletzungen durch Kugelblitze sind wenig konsistent und können oft durch Einwirkung gewöhnlicher linearer Blitze erklärt werden (Stenhoff 1999).
In Gewitterwolken kommt es durch thermische Konvektion zu starken Luftströmungen. Die Partikel (Eis, Tropfen, Staub, Moleküle) in der Wolke stoßen dabei heftig aneinander und können sich elektrisch aufladen. Negative Ladung an makroskopischen Partikeln ist in der Natur eher zu realisieren, wenn sie sich auf einer größeren Oberfläche verteilen kann. Diese meist schwereren Partikel sinken daher präferenziell in untere Wolkenschichten, wogegen solche mit positiver Ladung an die Wolkendecke aufsteigen können. Es kommt zu einer Ladungstrennung, die immense elektrische Potenzialunterschiede von bis zu einigen Millionen Volt über mehrere Höhenkilometer innerhalb der Wolke und zwischen Wolke und Boden zur Folge hat. Die Spannung entlädt sich schlagartig als Blitz. Dabei werden freie Elektronen (welche in geringer Zahl auch in ruhiger Luft durch ionisierende Höhenstrahlung existieren) durch das Feld beschleunigt und treten lawinenartig von der Wolke zum Boden hin weitere Elektronen frei. So wird ein vorläufiger leitfähiger Kanal geschaffen. Bei der anschließenden, als eigentlicher Blitz wahrgenommenen Starkstromentladung steigt die Temperatur in dem einige Zentimeter breiten Kanal auf über 30.000 Kelvin.
Die Möglichkeit der Fehldeutung anderer atmosphärischer Leuchterscheinungen durch Augenzeugen als Kugelblitze ist zu erwägen. So ist denkbar, dass zumindest ein Teil der Beobachtungen auf Nachleuchten im Auge des Betrachters durch lokalisierte Blitzeffekte zurückzuführen ist, zum Beispiel beim Aufschlag eines gewöhnlichen Blitzes in den Boden oder bei Überschlägen innerhalb von Gebäuden durch Überspannungen während eines nahen Einschlags. Eine Leuchtwahrnehmung infolge eines Blitzschlages kann sogar als Auswirkung eines sehr starken elektromagnetischen Impulses auf die Gehirntätigkeit, genannt magnetisches Phosphen (Marg und Rudiak 1994), auftreten.
Weiterhin wird vermutet, dass bis zu einem Viertel angeblicher Kugelblitzerscheinungen eigentlich Verwechslungen mit stationären Korona-Entladungen sein könnten, den so genannten Elmsfeuern, welche während eines Gewitters von leitfähigen und spitz zulaufenden Gegenständen ausgehen können (Stenhoff 1999). Andere helle Erscheinungen wie etwa astronomische Objekte muten als alternative Erklärung für Augenzeugenberichte im Umfeld eines Gewitters durch die übliche Bewölkung des Himmels unwahrscheinlich an, müssen aber ebenso wie künstliche Lichter besonders bei der Untersuchung von filmischen und fotografischen Aufnahmen bedacht werden. Die Zeitschrift National Geographic beispielsweise verkauft ihren Lesern eine Aufnahme eines „Kugelblitzes" als authentisch (Faidley 1996), welche jedoch ziemlich leicht als Mehrfachbelichtung der untergehenden Sonne bei etwas trübem Horizont und einer Kamerabewegung zu entlarven ist. Eine Vielzahl von Kugelblitzfotografien und Videoaufnahmen wird bei Stenhoff (1999) auf solche möglichen oder sicheren alternativen Erklärungen hin analysiert. Er schließt daraus, dass eine Evidenz für die Existenz von Kugelblitzen alleine aus den bisher bekannten Fotografien zweifelhaft sei.
Weiter werden oft als Auslöser für mehr oder weniger wahrscheinliche Fehldeutungen angeleuchtete Wetterballone, Landescheinwerfer von Flugzeugen, Irrlichter in Sümpfen oder pyrotechnische Signalleuchten genannt.
Akzeptiert man, dass mit Sicherheit nicht alle Kugelblitzberichte auch solche Ereignisse sind, aber dass dennoch den verlässlicheren Berichten ein reales physikalisches Phänomen zugrunde liegen kann, dann stellt sich als Nächstes die Frage nach der Natur dieses Phänomens. In den folgenden beiden Kapiteln werden einige Theorien dazu vorgestellt und diskutiert. Es ist zu betonen, dass bisher keines dieser Modelle allgemein im Sinne eines wissenschaftlichen Konsens als zutreffend akzeptiert wird.
Ein Kugelblitz als Plasmakugel?
Die überwiegende Mehrheit aller Kugelblitzereignisse steht in Zusammenhang mit gewöhnlichen Blitzeinschlägen während eines Gewitters. Es liegt daher nahe, auch einen Zusammenhang in der Natur der Erscheinungen anzunehmen. Blitze sind elektrische Entladungen in der Atmosphäre (siehe Kasten links), in denen für kurze Zeiten von gewöhnlich weniger als einer Sekunde hohe Stromstärken und freigesetzte Energien von bis zu 200 Megajoule zu einer Ionisierung von Luft und hohen Temperaturen von mehreren zehntausend Grad Celsius im Blitzkanal führen. Der Zustand eines ionisierten Gases, wie es beispielsweise in einer solchen Blitzentladung entsteht, wird von den Physikern als Plasma bezeichnet. Ein Plasma lässt sich genauer definieren als „ein makroskopisch neutrales Gas aus vielen geladenen (und gegebenenfalls neutralen) Teilchen, dessen Verhalten wesentlich durch kollektive Freiheitsgrade bestimmt ist" (Spatschek 1990). Der letzte Nebensatz betont, dass ein gewöhnliches neutrales Gas durch kurzreichweitige Wechselwirkung der Atome und Moleküle untereinander dominiert wird, aber die Teilchen über größere Entfernungen im Wesentlichen unabhängig voneinander sind. Bei einem Plasma hingegen bewirken die langreichweitigen elektromagnetischen Wechselwirkungen der geladenen Teilchen untereinander und kollektiv eine komplexe und vielfältige Dynamik und somit auch manche Schwierigkeit bei einer konkreten (mathematischen) Beschreibung des Verhaltens.
Viele Theorien zur Natur von Kugelblitzen sind Plasmamodelle. Diese bringen jedoch einige Probleme mit sich.
So sollte eine Plasmakugel der beobachteten Größe aufgrund der hohen Temperaturen wie ein Heißluftballon rasch nach oben steigen und durch die ständige Abstrahlung von Energie rasch an Leuchtkraft verlieren, was beides nicht beobachtet wird. Als Ausweg zum Problem der Energieabstrahlung wurde von mehreren Autoren postuliert, dass die Energie nicht nur zum Zeitpunkt der Entstehung, sondern ständig zugeführt wird: Kapitza (1955) etwa schlug sich überlagernde starke Mikrowellenfelder im Umfeld eines Gewitters vor. Ohtsuki und Ofuruton (1991) gelang es bei einem entsprechenden Laborversuch mit bestimmten chemisch reaktiven Gasgemischen, leuchtende Feuerbälle zu erzeugen, die Kugelblitzen nicht ganz unähnlich sind. Ein weiteres Charakteristikum, mit dem Plasmamodelle ihre Schwierigkeit haben, ist die Formstabilität der Kugel. So lässt sich aus einer relativ einfachen mathematischen Betrachtung, dem so genannten Virialtheorem, zeigen, dass sich ein Plasma innerhalb eines beschränkten Gebiets im Vakuum allein durch innere Ströme und Magnetfelder nicht selbst im Gleichgewicht halten kann (Shafranov 1957), sodass der Kugelblitz schnell zerfließen würde. Der endliche Druck der Umgebungsluft lässt zwar mögliche Lösungen zu, die erhaltenen Gleichgewichte sind jedoch instabil gegenüber einer großen Zahl möglicher Anregungen (Kaiser und Lortz 1995). Ein neueres Modell von Ranada, Soler und Trueba (2000) benutzt eine trickreiche Anordnung der inneren Magnetfelder im Kugelblitz, um theoretisch höhere Stabilität, längere Leuchtdauer und niedrigere Gesamttemperatur im Vergleich zu einer ganz mit Plasma ausgefüllten Kugel zu erzielen (siehe Abb. 2). Plasma und Magnetfeld sollen sich dabei auf relativ dünne Filamente („Streamer") entlang komplex ineinander verknoteter Flussschläuche beschränken. Der nicht leuchtende Rest der insgesamt kugelförmig erscheinenden Struktur könnte mit kühlerer neutraler Luft angefüllt sein. Die ineinander verlinkten Strom- und Feldringe sollen nach Abschätzung der Autoren die ansonsten unweigerlich rasche Expansion des Plasmas auf für Kugelblitze relevante Zeiten verlangsamen. Bislang handelt es sich allerdings nur um eine theoretische Möglichkeit; solche Plasmaknoten sind bei Entladungen im Labor noch nicht beobachtet worden.
Chemische Modellvorstellungen
Die Liste mehr oder weniger durchdachter Ideen und Theorien zu Plasmakugeln ist noch weit länger, sodass für einen vollständigeren Überblick hier wieder auf die verfügbaren Kompendien (Singer 1971, Stenhoff 1999) verwiesen sei. Aber auch andere Ansätze werden verfolgt. Um das Problem der Stabilität einer Plasmakugel zu lösen, schlug der Chemiker Turner (1998) beispielsweise ein Szenario vor, in dem hohe Luftfeuchtigkeit der Umgebung wesentlich ist. Er geht davon aus, dass rund um einen Plasmakern die Molekülionen aus dem Plasma an Wasserdampf rekombinieren. Dies führt zu einer schalenartigen Struktur, die aus thermodynamischen Gründen stark unterkühlt ist. Darin kann Wasser kondensieren, und das kondensierte Wasser soll das Gewicht des Kugelblitzes gerade so viel erhöhen, dass der Auftrieb durch den heißen Kern kompensiert wird. Die Stabilität wird vergrößert, indem Ionen anderer Luftbestandteile zu Säuretröpfchen kondensieren und dadurch eine Schale mit genügend hoher Oberflächenspannung bilden, die den Expansionsdruck des Plasmas ausgleiche.
Um das Problem zu lösen, dass die Leuchtkraft über den beobachteten Zeitraum grob konstant bleibt, wurden statt äußerer Energiequellen (wie starke elektrische oder elektromagnetische Felder) auch innere Quellen vorgeschlagen, etwa chemische Reaktionen. (Auch Kernreaktionen und Teilchen-Antiteilchen-Auslöschung wurden erwogen, was allgemein aber als recht unwahrscheinlich angesehen wird.)
Eine chemische Energiequelle nimmt auch das vor kurzem von Abrahamson und Dinniss (2000) veröffentlichte Modell an. Sie greifen die von mehreren Autoren (z. B. Smirnov 1993) diskutierte Idee auf, dass ein Kugelblitz als Medium statt eines Plasmas ein polymerartiges Aggregat mit fraktaler Struktur (Abb. 3) ist, und bieten eine plausible Hypothese über die Art des Mediums und die eigentliche Entstehung des so gestalteten Kugelblitzes: Der Einschlag eines gewöhnlichen Blitzes in sandigen Boden kann die darin enthaltenen mineralischen Körner in Nanopartikel umwandeln, die aus Silizium (Si) und Kombinationen mit Sauerstoff (SiO) und Kohlenstoff (SiC) bestehen. Ein Teil der Energie des Blitzes wird also in Form von chemischer Energie gespeichert. Die rasche anfängliche Abkühlung nach einer solchen Entladung kann komplexe Suspensionen der Nanopartikel in Form von Kettenaggregaten mit dendritischem Wachstum erzeugen. Solche Strukturen von bis zu mehreren Zentimetern Länge sind von wissenschaftlichen und industriellen Laboranwendungen mit Bogenentladungen nicht unbekannt. Den beiden Autoren gelang es nun, Ketten von Nanopartikeln auch tatsächlich bei blitzähnlichen Laborentladungen in Erdboden nachzuweisen. Eine Anordnung der Filamente in Kugelform wurde noch nicht beobachtet, wobei die Autoren betonen, dass die erzeugten Entladungen in weit geringere Erdtiefen eingedrungen sind, als es bei natürlichen Blitzen der Fall sein kann. Bei Blitzen in der Natur entstünden Kavitäten im Boden, welche größere Strukturen begünstigten. Die berichteten elastischen und dynamischen Eigenschaften eines Kugelblitzes ergeben sich in diesem Modell direkt aus denen der Kompositstrukturen. Eine langsame Oxidation der reaktiven Siliziumverbindungen führt nach Berechnungen von Abrahamson und Dinniss zu einer Leuchtkraft und freisetzbaren Energie, die mit Kugelblitzberichten vereinbar ist. Je nach Beimischung anderer Erdbestandteile (z. B. Kohlenstoff) in den Ball, welche den Wärmeverlust mitbestimmen, ist auch die berechnete Lebensdauer konsistent.
Dieses chemische Modell von Abrahamson und Dinniss erscheint aufgrund der eher unspektakulären Annahmen und der ersten experimentellen Hinweise attraktiv als Erklärung einer möglichen Natur des Kugelblitzes. Ehe aber mit dieser Methode wirkliche Leuchtkugeln von relevanter Größe im Labor erzeugt werden, ist auch hier das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Erwägung der Nullhypothese
Bisher sind also einige gar nicht unplausible Theorien zur Natur des Kugelblitzes vorgebracht worden. Egal jedoch, ob sich diese Modelle auf starke elektrische oder elektromagnetische Felder (wie Mikrowellen) als Energiequelle verlassen oder auf innere chemische Quellen, immer erklären sie nur Erscheinungen im Freien und tun sich schwer bei der Interpretation von Sichtungen in geschlossenen Räumen oder gar in Flugzeugkabinen. Ein möglicher Ausweg wäre es, zwei (oder mehr) Modelle für jeweils unterschiedliche Situationen zu postulieren. Einen spannenden Hinweis auf die mögliche Natur von Kugelblitzsichtungen im Inneren von Häusern und Flugzeugen gibt uns dabei ein von Stenhoff (1999) zitierter Kugelblitzbericht eines Universitätsprofessors aus dem Jahr 1977:
„Es geschah, als gerade eine private Party stattfand und sich etwa 40 Personen im Haus befanden. Diejenigen von uns in der Küche sahen die Kugel inmitten einer Gruppe mehrerer Leute, ungefähr in der selben Richtung, in die wir blickten, als der Blitz einschlug. Die Leute im Aufenthaltsraum sahen die Kugel auf ähnliche Weise nahe dem offenen Kamin. Das Mädchen im Bad sah sie in Richtung des Fensters. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht durch das ganze Haus schweben konnte, und bisher hat meines Wissens noch nie jemand zwei gleichzeitig gesehen... Als Physiker interpretierte ich das Phänomen des Kugelblitzes als Effekt eines sehr starken elektromagnetischen Impulses auf das Gehirn."
Es könnte sich also, wie oben bereits erwähnt, sehr wohl um ein magnetisches Phosphen handeln, ausgelöst im Gehirn der Betrachter durch die starken Felder eines gewöhnlichen Blitzschlages. In der Fachliteratur finden sich kontrollierte Studien nur zur Auswirkung weitaus schwächerer elektromagnetischer Felder auf die Bildung von Phosphenen (z. B. Marg und Rudiak 1994). Auch diese Interpretation ist also lediglich eine Hypothese, die mit relativ einleuchtenden Annahmen dort greift, wo auch die besseren der physikalischen Modelle versagen.
Wir sind uns bewusst, dass ein allzu leichtfertiges Schwingen der Ockhamschen Klinge zu voreiligen Schnittverletzungen im Gesicht des Skeptikers führen kann, die ihm zu späterem Hohn verhelfen können, stellte sich denn eine auf dieser Grundlage hintangestellte These doch einmal als wahr heraus. Doch aufgrund zweier Tatsachen muss auch die Erwägung der Nichtexistenz als Nullhypothese im Fall des Kugelblitzes erlaubt sein. Zum einen existiert eine neurophysiologische Deutung für die Fälle in geschlossenen Räumen, in denen die relevanteren physikalischen Modelle nicht greifen. Zum anderen sei daran erinnert, dass es nach wie vor überhaupt keine gesicherte fotografische oder filmische Dokumentation eines Kugelblitzes gibt (Campbell 1992, Stenhoff 1999). Es darf also nicht ausgeschlossen werden, dass auch Berichte im Freien durch magnetische Phosphene oder eine ähnliche neurophysikalische Illusion ausgelöst werden könnten. Die Existenz der physikalischen Natur eines Kugelblitzes erscheint dann nicht mehr zwangsläufig nötig.
Augenzeugen einer wie oben dargestellten Erscheinung ordnen diese wie selbstverständlich der Kategorie „Kugelblitz" zu, da Forscher und Presse die passenden Charakteristika mit einem solchen Begriff belegt haben, der eine physikalische Natur fast schon impliziert. Keul (1989) berichtet, dass besonders die österreichischen Medien jegliches außergewöhnliche Ereignis in Zusammenhang mit Gewittern immer gerne so genannten Kugelblitzen zuschreiben. Auch in der österreichischen Folklore sind geheimnisvolle Leuchterscheinungen wie die „Lichtmandln" verbreitet.
Gibt es nun Kugelblitze? Als beobachtetes Phänomen, über welches viele, darunter auch wissenschaftlich vorgebildete Augenzeugen berichten, existieren Kugelblitze ohne Zweifel. Die Natur der Erscheinung ist aber nach wie vor ungeklärt. Die zugrunde liegenden Daten sind nicht eindeutig und zwangsläufig gegenüber verschiedenen Interpretationen offen (Campbell 1992, Chambers 1992). In Ergänzung zu einer Deutung als physikalischer oder chemischer Feuerkugel kann und soll daher nach wie vor auch immer die mögliche Nullhypothese erwogen und eine solche Existenz in Frage gestellt werden.
Literatur
- Abrahamson, J., Dinniss, J. (2000): Ball lightning caused by oxidation of nanoparticle networks from normal lightning strikes on soil. Nature 403 (6769), 519
- Campbell, S. (1992): Great balls of fire. The Skeptic, Nov/Dec 1992, 12
- Chambers, F. (1992): Ball lightning and one other. The Skeptic, Jul/Aug 1992, 10
- Faidley, W. (1996): http://www.nationalgeographic.com/features/96/lightning/3b.html
- Hell, W. (1999): Gedächtnistäuschungen. Skeptiker 4/1999, 155
- Kaiser, R., Lortz, D. (1995): Ball lightning as an example of a magnetohydrodynamic equilibrium. Physical Review E 52 (3), 3034
- Kapitza, P. L. (1955): Über die Natur des Kugelblitzes. Physikalische Blätter 14 (1958), 11. (Übersetzung von: Doklady Akademii Nauk. SSSR 101 (2), 1955, 245)
- Keul, A. G., Schwarzenbacher, K. (1989): Phenomenological and psychological analysis of 150 Austrian ball lightning reports. In: Ohtsuki, Y. H. (Hrsg.): Science of ball lightning (fire ball), World Scientific Publishing, Singapur
- Marg, E., Rudiak, D. (1994) Phosphenes induced by magnetic stimulation over the occipital brain: description and probable site of stimulation. Optometry & Vision Science 71(5), 301-311
- Ohtsuki, Y. H., Ofuruton, H. (1991): Plasma fireballs formed by microwave interference in air. Nature 350 (6314), 139
- Protasevich, E. T (2000): Ball lightning bibliography. Tomsk Polytechnical University, Tomsk, Russia.
- Ranada, A. F., Soler, M., Trueba, J. L. (2000): Ball lightning as a force-free magnetic knot. Physical Review E 62 (5), 7181
- Shafranov, V. D. (1957): On magnetohydrodynamical equilibrium configurations. Soviet Physics - JETP 6 (9), 45
- Singer, S. (1971): The nature of ball lightning. Plenum Press, New York
- Smirnov, B. M. (1993): Physics of ball-lightning. Physics Reports 224 (4), 151
- Spatschek, K. H. (1990): Theoretische Plasmaphysik. Teubner Verlag, Stuttgart
- Stenhoff, M. (1999): Ball lightning: an unsolved problem in atmospheric physics. Kluwer Academic/Plenum Publishers, New York
- Turner, D. J. (1998): Ball lightning and other meteorological phenomena. Physics Reports 293, 1
- Wolf, R. (1999): Das elfte Gebot: „Du sollst Dich nicht täuschen". Skeptiker 4/1999, 140
- Zangla, T. (1998): E-Mail an den Autor vom 24.8.1998. (Übers. d. A.)
Dr. Alexander Kendl, Studium der Physik in Augsburg und München. Diplomarbeit am Max-Planck-Institut für Quantenoptik zu Aspekten des Plasmaeinschlusses durch Trägheit. Promotion an der TU München über Instabilitäten in magnetisch eingeschlossenen Plasmen. Seit 1997 am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik, Garching, mit Forschungsschwerpunkt auf Turbulenz und nichtlinearer Dynamik.
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 2/2001.