"Keine Spur vom Triumph des Todes"
Immer wieder machen die unverwesten Leichname von Heiligen Schlagzeilen. Göttliches Wunder oder natürliches Phänomen?
Bernd Harder
Die Mumie lebt. Der unverweste Leichnam des adligen Christian Friedrich von Kahlebutz in Kampehl (Brandenburg) zieht jährlich Tausende Touristen an - obwohl er alles andere als ein Heiliger war.
Das Gesicht des Toten schimmerte pergamentfarben. Körper und Kleider waren so gut wie unversehrt: Als Vatikan-Experten am 16. 1. dieses Jahres das Grab von Papst Johannes XXIII in der Krypta der Peterskirche öffneten, glaubten sie sich einem Schlafenden gegenüber. „Der Körper war intakt, als wäre er am Vortag beerdigt worden", berichtete der Leiter der Umbettungs-Kommission, Kardinal Vigilio Noe. „Keine Spur vom Triumph des Todes war zu sehen" - und das 38 Jahre nach dem Dahinscheiden des Reform-Papstes am 3. 6. 1963. Die Zeitungen der Heiligen Stadt Rom schrieben eifrig von einem „kleinen Wunder". Doch selbst Kardinal Noe, Erzpriester der Vatikanbasilika, zeigte sich eher skeptisch: „Auch der Leichnam von Bonifaz VIII. war nicht verrottet, und den hält nun wirklich niemand für heilig." Umgekehrt kenne die Kirche eine ganze Reihe von Präzedenzfällen, bei denen die Leichname von Heiligen rasch zerfielen, während sich mitunter „die sterblichen Hüllen von Menschen, die nicht im Ruf der Heiligkeit standen, über Jahrhunderte konservierten".
Zum Beispiel die des Christian Friedrich von Kahlebutz. Seit fast 300 Jahren liegt seine Leiche unverwest in der Dorfkirche von Kampehl im westlichen Brandenburg. Jedes Jahr besichtigen bis zu 100000 Neugierige den wenige Quadratmeter großen Gruftanbau, denn bis heute weiß niemand genau zu sagen, warum der Ritter zur Mumie wurde und nicht zu Staub. 1690 soll der „Kahlebutz" einen Schäfer erschlagen haben, dessen schöne Braut dem adligen Feudalherren das „Recht der ersten Nacht" versagte. Da es keine Zeugen und keine Beweise für die Tat gab, konnte Christian Friedrich von Kahlebutz sich durch einen so genannten Reinigungseid vor Gericht freisprechen: Wenn er der Mörder sei, dann „wolle Gott, dass mein Körper nie verwese." 1702 starb der als jähzornig und gewalttätig bekannte Ritter und Fahnenjunker (Kornett). 92 Jahre später ließ der neue Besitzer des Ritterguts derer von Kahlebutz das Anwesen renovieren. Bei dieser Gelegenheit sollten auch die Särge in der Familiengruft, einem kleinen Feldsteinanbau an der Kampehler Kirche, der Erde übergeben werden. Wie häufig in solchen Fällen wurden die Särge dabei noch einmal geöffnet. Entsetzt stellten die Arbeiter fest, dass eine der Leichen mumifiziert und völlig erhalten war - die des Ritters Kahlebutz.
Der Legendenbildung tat es keinerlei Abbruch, dass 1865 ein Lehrer aus Bückwitz im Archiv des Königlichen Domänenamtes Dreetz zwar eine „Acta in Betreff des Cornet von Kahlebutz" aufstöberte, aber keinerlei Hinweis auf den gotteslästerlichen Anti-Verwesungsschwur darin fand. Heute liegt der Unverwüstliche mit gefalteten Händen in einem massiven Doppelsarg aus Tannen- und Eichenholz, dessen Deckel inzwischen durch eine Glasscheibe ersetzt wurde. Von seinen schätzungsweise 70 Kilo Lebendgewicht sind zehn übriggeblieben. Aus dem nahen Berlin reisten berühmte Mediziner wie Rudolf Virchow und Ferdinand Sauerbruch an, um die lederartige sterbliche Hülle des Christian Friedrich von Kahlebutz zu untersuchen. Sie konnten lediglich feststellen, dass alle inneren Organe, wenn auch in vertrocknetem Zustand, erhalten sind - und dass es keine eindeutigen Ursachen für die Mumifizierung gibt. An dem „Kahlebutz" geht das spurlos vorbei. Teilnahmslos liegt er in seinem Sarg und schaut aus leeren Augenhöhlen in die Gesichter der Touristen.
Lucca, Italien: In einer Seitenkapelle der Kathedrale San Frediano ruht der unverweste Leichnam der heiligen Zita. Gläubige wie Neugierige verharren in ergriffenem Schweigen vor dem Schrein aus Glas und Gold. Die in Italien vielgeliebte Schutzpatronin der Hausangestellten und Dienstboten trägt auf dem Totenbett ein Kleid aus grünem Samt. Ihre Gesichtszüge sind ebenmäßig, die Hände wirken 723 Jahre nach ihrem Tod noch geschmeidig. Auch Zitas Körper gehört zu den rund 100 unversehrten Leichnamen katholischer Heiliger, die im anglo-amerikanischen Sprachraum „The Incorruptibles" genannt werden. Die bekanntesten „Incorruptibles" sind der Pfarrer von Ars (gestorben 1859), Antonius von Padua (gest. 1231), Katharina von Siena (gest. 1380), Bernadette Soubirous (gest. 1879) und der polnische Märtyrer Andreas Bobola (gest. 1657), der bereits 1719 öffentlich ausgestellt, 1920 von russischen Soldaten in ein Museum nach Moskau gebracht, doch später auf Drängen von Papst Pius XI. wieder zurückgegeben wurde. Der polnische Ordenspriester Valerian Kuczynski erinnert sich an die „Heimkehr" des Heiligen:
„Wir öffneten den Sarg und fanden den Körper ganz unverwest, so zermartert, wie er jetzt zu sehen ist, und als wir ihn vom Staube reinigten, säuberten wir auch den Sarg und legten den Leichnam wieder hinein. Wir stellten auch keinerlei Geruch an ihm fest, ja der Leib war genauso, wie wenn er gerade erst begraben worden wäre. Und wir hielten die Unversehrtheit seines Körpers für eine einzigartige Gnade Gottes und für ein ganz besonderes Wunder."
Ähnliches liest man im Internet-Forum „Glauben heute" der Steyler-Missionare:
„Das Phänomen, dass Leichname von einigen Heiligen nicht verwesen, obwohl andere Leichen auf demselben Friedhof nicht mehr wiederzuerkennen sind, kann man nur als außergewöhnlich bezeichnen. Man kann es als Zeichen Gottes deuten. Diese Menschen haben ihre Leiber und ihr Leben zu einem heiligen Dienst genutzt."
„Es ist ein sonderbares Phänomen", gibt der Pathologe Ezio Fulcheri von der Universität Genua zu. Aber ein echtes Wunder? Der italienische Wissenschaftler schüttelt mit einem bedauernden Lächeln den Kopf. Fulcheris Interesse an unvergänglichen Körpern wurde 1986 geweckt: Im offiziellen Auftrag der katholischen Kirche wirkte der Mumien-Experte an der Konservierung der Leiche des ukrainischen Kardinals Josef Slipyj mit - ein möglicher Kandidat für eine Heiligsprechung. Unter dem Pontifikat von Papst Johannes Paul II. sind von 1978 bis Mai 2001 insgesamt 477 Menschen heilig gesprochen worden. Das sind mehr Heiligsprechungen als bis dahin in den fast 400 Jahren seit 1588, der Einführung des so genannten Kanonisierungsverfahrens.
Fulcheri und sein Team entnahmen Slipyjs Leichnam das Gehirn und die inneren Organe und präparierten den Körper in einer viermonatigen Prozedur mit chemischen Bädern. Fulcheri begann sich zu fragen, ob in der Vergangenheit nicht vielleicht ähnlich mit den sterblichen Hüllen von Heiligen verfahren wurde. Seine Vermutung sollte schon bald zur Gewissheit werden. Kardinal Slipyj ruhte bereits wieder in seiner Krypta im ukrainischen Lviv, als die vatikanische „Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse" ein weiteres Mal an Fulcheri herantrat. Diesmal sollte er den unverwesten Leichnam der Margarete von Cortona untersuchen, die am 22. 2. 1297 „mit Jubel und leuchtendem Antlitz als Heilige" gestorben war, wie gläubige Zeitgenossen bezeugten.
Als die Pathologen, Chemiker und Radiologen den Körper in einer Gruft in der Kathedrale von Cortona vorsichtig entkleideten, hob erstauntes Raunen an: Die Wissenschaftler sahen sofort die tiefen Schnitte entlang der Oberschenkel, im Unterleib und in der Magengegend. Offenkundig waren der Heiligen diese Wunden nach ihrem Tod beigebracht und anschließend grob vernäht worden. Beim Akten-Studium machte Fulcheri eine weitere erstaunliche Entdeckung. Die Bewohner von Cortona hatten seinerzeit die Kirche mit großem Nachdruck darum gebeten, den Körper der verehrten Wohltäterin vor der Vergänglichkeit zu bewahren. Vermutlich geschah dies mit einfachen Mitteln wie Salz oder Natron, um die natürliche Austrockung der Leiche künstlich zu beschleunigen - ähnlich wie im alten Ägypten. Außerdem konnten die Untersucher Spuren von Salben, duftenden Gewürzen und Pflanzenextrakten auf dem Körper der heiligen Margarete feststellen, darunter Myrrhe und Aloe, die das Entstehen von Fäulnisbakterien verhindern - und darüber hinaus auch den oft zitierten Wohlgeruch der heiligen Toten erklären könnten.
Fulcheri ist davon überzeugt, dass die Juden bei ihrem Auszug ins Gelobte Land das alte Wissen mit nach Palästina genommen haben. Von dort kam es dann mit den ersten Christen nach Rom und ins restliche Europa. Denn schon beim Evangelisten Johannes lesen wir über die Grablegung Jesu: „Sie nahmen nun seinen Leichnam und banden ihn mit Leinenbinden samt wohlriechenden Beigaben" (19, 40). Fulcheri folgert:
„Anscheinend gingen die frühen Christen davon aus, dass ähnlich wie Jesus selbst auch alle Heiligen balsamiert, zumindest aber mit bewahrenden Ölen, Salben und Substanzen wie Weihrauch, Myrrhe, Aloe oder Harz behandelt werden sollten."
Der Pathologe ist nach vielen weiteren Untersuchungen sicher, dass darin auch das Geheimnis der Unvergänglichkeit von Clara von Montefalco, Katharina von Siena, Bernhardin von Siena, Rita von Cascia und der seligen Margarete von Metola liegt. In den vergangenen 15 Jahren sind knapp 30 „Incorruptibles" in aller Stille aus ihren Sarkophagen geholt und wissenschaftlich inspiziert worden.
Künstliche Konservierung von Menschenhand ist ohne Zweifel eine der Erklärungen für das Phänomen der „Incorruptibles". So auch im eingangs erwähnten Fall des „gütigen Papstes" Johannes
XXIII. „Ein Wunder ist es jedenfalls nicht", sagt Professor Gennaro Goglia, Anatom an der Katholischen Universität Rom. Und er muss es wissen. Am 3. 6. 1963 stieg Goglia gegen 22 Uhr in eine vatikanische Limousine, die vor der Uni-Klinik auf ihn wartete. Wenig später stand er am Totenbett des Oberhauptes der katholischen Kirche. An der rechten Hand ritzte er einen drei Millimeter langen Schlitz in die Haut des Verstorbenen. Vorsichtig führte er eine Kanüle ein, durch die er zehn Liter einer Konservierungsflüssigkeit in den Leichnam pumpte. „Formalin in etwa zehnprozentiger Verdünnung" sei darin gewesen und andere Substanzen, die Goglia bis heute nicht preisgeben will. Überhaupt sprach der römische Mediziner später nie mehr über seinen Eingriff. Erst als er von dem vermeintlichen „Wunder" bei der Graböffnung hörte, fühlte er sich in seiner Ehre als Wissenschaftler getroffen und fragte beim Vatikan höflich an, ob er befugt sei, über jene Nacht im Sommer 1963 zu berichten. Heute sorgt modernste Technik für den Erhalt des toten Körpers: Über mehrere Ventile wird der kugelsichere, 450 Kilogramm schwere Sarg des Reform-Papstes mit einem hochgiftigen Stickstoffgemisch belüftet, das Bakterien und Schimmel abtötet. Desweiteren sorgt eine Kühlung dafür, dass auch Außentemperaturen von mehr als 36 Grad keinen Schaden mehr anrichten können.
„Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehren wirst", sprechen die katholischen Priester, wenn sie am Aschermittwoch das Aschekreuz auf die Stirn der Gläubigen zeichnen. Und von Jesus Christus ist die Mahnung überliefert: „Lasst die Toten ihre Toten begraben. Du aber geh und verkünde das Reich Gottes." Weshalb also der Kult um den möglichst unversehrten Leichnam Heiliger, Seliger und Ehrwürdiger? Dass manche Kandidaten für die Ehre der Altäre dem „Schrecken des Grabes" widerstanden (so der katholische Kirchenhistoriker Pater Herbert Thurston), gilt nicht als maßgebliches Kriterium für die Heiligsprechung. Andere Kriterien, wie ein außergewöhnlich gottesfürchtiges Leben und bezeugte Wundertätigkeit, sind viel entscheidender. Allerdings verfasste der italienische Kardinal Prospero Lambertini (der spätere Papst Benedikt XIV.) im 18. Jahrhundert die Abhandlung „De Cadaverum Incorruptione", in der die Unverwesbarkeit des Leichnams durchaus als ein Indiz für das heiligmäßige Leben der betreffenden Person beschrieben wird: gewährt einigen erwählten Dienerinnen und Dienern Gottes, „die auf die glorreiche Auferstehung im Fleische vorbereitet werden".
„Für diejenigen von uns, die einige dieser Heiligen geliebt und bewundert haben, ist es ein Trost zu wissen, dass sie nicht nur irgendwo im weiten Jenseits weilen, sondern dass sich ihre Leiber, die eines Tages in Glorie erstrahlen werden, noch immer unter uns befinden", schreibt die Amerikanerin Joan Carroll Cruz in ihrer umfangreichen Fallsammlung „The Incorruptibles". „Man kann einen Heiligen natürlich überall verehren, nicht nur da, wo eine Reliquie, also ein Teil des Körpers, vorliegt", erklärt der Benediktinerpater Dr. Marcus Sieger von der Abtei Maria Laach. „Es ist eher eine Frage der Psychologie, dass man als Mensch gerne etwas Handfestes vor sich hat." Vor allem in früheren Zeiten war das Wunder das Einzige, was ein Heiliger den Armen, Kranken, Unterdrückten und Leidenden gewähren konnte. Mancher wirkte Wunder schon zu Lebzeiten - andere machten im Grab auf sich aufmerksam, etwa durch Unverwesbarkeit.
So auch die heilige Zita. Ihr Körper in der Kathedrale von Lucca wurde eingehend von dem Pathologen Gino Fornaciari von der Universität Pisa untersucht. Der renommierte Mumien-Fachmann konnte keinerlei Anzeichen einer künstlichen Konservierung des Leichnams ausmachen. Aber er rekonstruierte, dass die Frau aus dem 13. Jahrhundert an auszehrenden Krankheiten litt, vermutlich an Tuberkulose, und später an einer Bleivergiftung, höchstwahrscheinlich eine Folge vom „Reste-Essen" aus den damals üblichen Pfannen und Töpfen. Zum Zeitpunkt ihres Todes soll die heilige Zita klapperdürr gewesen sein. Auch der Pfarrer von Ars sei schon zu Lebzeiten dürr wie ein Skelett gewesen.
Dass eine Leiche, von der man fast sicher annehmen kann, dass sie nicht einbalsamiert ist, dennoch erhalten blieb, ist eigenartig - aber nicht unbedingt wundersam oder gar übernatürlich. Denn auch der körperliche Zustand der „Incorruptibles" bei ihrem Tod spielt eine große Rolle. Besuchen wir noch einmal den armen „Kahlebutz" in Kampehl. Nach heutigen Erkenntnissen kann man folgendes annehmen: Der Ritter plagte sich mit einem Leiden, das eine völlige Abzehrung bewirkte, wie Krebs, Muskelschwund oder Tuberkulose. Für letztere Krankheit spricht die Überlieferung, nach der Christian Friedrich von Kahlebutz im eigenen Blut erstickt sei, also einem Blutsturz erlag, wie er bei schweren Lungenkrankheiten auftreten kann. Die Leiche wurde in einem dichten Eichen-Doppelsarg beigesetzt - und wurde eine Mumie. Und nicht nur der „Kahlebutz". Allein in den fünf neuen Bundesländern zählt man rund 200 Mumien. Die bekanntesten liegen im Grabgewölbe neben der Krypta der Schlosskirche zu Quedlinburg und in einer Gruft in Schenkendorf im Kreis Königs-Wusterhausen. Auch in den Bremer Bleikammern, auf dem Bonner Kreuzberg oder in der Wiener St. Michaelskirche befinden sich Dutzende menschlicher Körper, die durch natürliche Austrockungsprozesse weitgehend unversehrt geblieben sind. Im übrigen Europa erlangten vor allem die Kapuziner-Katakomben in Palermo und auf Malta makabre Berühmtheit. Über die dort bestatteten Mönche schrieb ein Reisender im 19. Jahrhundert: „Sie tragen alle ihre übliche Kleidung... Haut und Muskeln sind trocken und hart wie Stockfisch, und obwohl viele von ihnen länger als 250 Jahre hier sind, ist keiner zum Skelett verfallen."
Der Kölner Medizinwissenschaftler und Forensiker Mark Benecke hat solche Leichen im Keller einer Kirche in Dublin besichtigt: „Die Mumien wurden vom Küster als eine ganz spannende Sache, gar als Einmaligkeit, angekündigt. Tatsächlich aber waren die Körper in keinem besonders guten Zustand, sondern ganz normal vertrocknet. Spannend waren eher die Geschichten des Küsters dazu. Es ist ein bisschen wie bei einem Zaubertrick: Wichtig ist, dass die Leute nicht so genau hingucken. Ein flüchtiger Blick erstaunt: Wow, nach so vielen Jahren ist immer noch Gewebe vorhanden! Wie gut sich aber trockenes Gewebe so oder so erhält, ist den meisten Menschen nicht klar."
Wissenschaftler kennen eine Reihe natürlicher Vorgänge, die zur dauerhaften Erhaltung einer Leiche führen können. Ob Verwesung oder Fäulnis - beides passiert, wenn organische Substanz durch Pilze, Bakterien und Insekten in einfache, anorganische Verbindungen verwandelt wird. Alles, was diese Vernichtungsarbeit behindert, kann zu einer natürlichen Konservierung führen. Bestimmte Luft- und/oder Bodenverhältnisse können einem Leichnam zum Beispiel das Gewebswasser entziehen und damit für lange Zeit konservieren. Auch dicht geschlossene Eichensärge können natürliche Mumien entstehen lassen - oder ständig bewegte trockene Luft, was sehr häufig bei Selbstmorden auf zugigen Dachböden vorkommt. Benecke: „Die Austrockung ist deshalb so wichtig, weil dann keine bakterielle Fäulnis und auch kein Schimmel entstehen kann. Außerdem verhindert sie, dass Insekten den Körper schnell fressen, da die meisten wegen ihrer kleinen Beißwerkzeuge ledriges Gewebe nicht annagen können."
Ein Fall von Austrockung ist auch Ötzi, die derzeit berühmteste Mumie Europas - das Eis entzog seinem Körper Wasser.
Häufiger als Trockenmumien sind in unseren Breitengraden die so genannten Fettwachsleichen: Vor einiger Zeit wurde zum Beispiel bei Balingen am Rande der Schwäbischen Alb das Grab eines Fliegers geöffnet, der in den letzten Kriegstagen abgeschossen worden war. Zum Schrecken aller Anwesenden war die Leiche mumifiziert. „Er hatte sich in mehr als 50 Jahren unter der Erde kaum verändert", berichteten die Grabgärtner. Kein Einzelfall - und selbst unter Insidern ein heikles Thema. Denn in manchen Regionen Deutschlands verhindern luft- und wasserdichte Tonböden sowie hoch stehendes Grundwasser den Verwesungsprozess der Toten auf den Friedhöfen. Wenn Gräber neu belegt werden sollen, bietet sich den städtischen Bediensteten häufig ein schauriges Bild.
„Aus halbverfaulten Sarghölzern starren ihnen unverweste Tote entgegen, bleich und wachshart wie Figuren aus dem Kabinett der Madame Tussaud", beschrieb ein Journalist erschreckt ein solches Szenario.
Fettwachsleichen entstehen, wenn bei Sauerstoffmangel und Feuchte und Kühle die Fette des toten Körpers „verseifen" (Saponifikation). Dabei wandelt sich das Unterhautfettgewebe unter einer immer fester werdenden Oberhaut in Ammoniakseife um. Diese seifenartige Substanz heißt Adipocire (vom lateinischen adeps = Fett und cera = Wachs) - und war zum Beispiel auch für die Unvergänglichkeit der 1868 gestorbenen seligen
Marie de Sainte-Euphrasie Pelletier, Stifterin des Ordens des guten Hirten, verantwortlich. Als der Bleisarg 35 Jahre nach ihrem Tod geöffnet wurde, waren ihre Züge noch deutlich zu erkennen: „Der Mund war leicht geöffnet, die Augen geschlossen, die Wimpern erhalten", schrieb ein untersuchender Arzt. Ohne den Körper zu enthüllen, war er ... „... in der Lage festzustellen, dass Brust, Bauch, Ober- und Unterschenkel eine mumienartige Haut bedeckte, unter der sich eine Masse aus Leichenwachs befand, entstanden durch die Saponifikation des tiefer liegenden Gewebes."
Aber wie kann es sein, dass manche Körper unversehrt blieben, obwohl sie begraben wurden und direkt neben anderen Leichnamen lagen, die sich normal zersetzten? Gibt es also doch absichtlich Konservierte, auf natürlichem Wege Konservierte - und „übernatürlich" Unverwesliche? Nicht unbedingt, meint der forensische Biologe Mark Benecke:
„So etwas ist durchaus denkbar, etwa wenn im einen Grab mehr luftiges Material wie trockener Sand auf den Sarg gefüllt wurde, und im anderen Lehm. Oder wenn das eine Grab aus irgendeinem Grund ständig mit Sickerwasser durchsetzt ist, das andere direkt daneben aber nicht. Oder wenn die eine Person im verlöteten Zinksarg liegt, die andere im billigsten Holzsarg."
Leicht erklärlich also, dass die katholische Kirche durchaus kein Monopol auf Leichname besitzt, die der Verwesung trotzen. Man kann ihnen auch in vielen anderen Religionen begegnen. Allein an dem berühmten buddhistischen Berg Jiuhua in der chinesischen Provinz Anhui sind 14 Leichname bekannt, deren Körper gut erhalten sind. Dazu gehören die Nonne Shirenyi und der Mönch Mingjing, der 1992 starb und dessen unversehrter Körper seit 1998 der Öffentlichkeit zugänglich ist.
Und nicht immer und in jedem Fall wird einem „Unverwesten" angemessener Respekt oder gar verklärende Verehrung zuteil. Der so genannte „Heilige Vogt" von Sinzig - die beinahe unverweste Leiche eines Mannes, der vermutlich Johann Wilhelm von Holbach hieß und seit mehr als 250 Jahren in der Sinziger Pfarrkirche St. Peter aufbewahrt wird - soll als Mumie um 1740 beim Fastnachtsumzug durch die Stadt getragen worden sein. Historiker berichten, dass die „offensichtlich nicht sehr aufgeklärte Landbevölkerung sehr viel Schabernack mit der Leiche getrieben" habe. Auch heute noch heißt der arme Johann Wilhelm von Holbach im Volksmund schlicht „das Ledermännchen".
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 3/2001.