Geisterwege, Leichenflugbahnen und Ceques - Heilige Linien in der Landschaft und ihre Bedeutung
Ulrich Magin
Gerade Linien in der Landschaft geben zu vielerlei Spekulationen in der geomantischen und prä-astronautischen Szene Anlass. Zwar existieren viele dieser so genannten „Ley-Linien" nur in der Phantasie der Suchenden, doch es gibt tatsächlich in vielen Kulturen aus aller Welt langgestreckte, sich kilometerweise geradlinig erstreckende Anlagen. Aus der europäischen Sagenwelt sind schnurgerade Wege bekannt - die Geisterwege, auf denen sich die Toten bewegten. Auch in anderen Kulturen zeigt sich, dass geradlinige Straßen im Allgemeinen nicht profanen Zwecken dienten, sondern heilige Bedeutung hatten. Möglicherweise besteht eine Verbindung zu dem als geradlinig gedachten Flug von Schamanen. Sie sind - mit einem Lineal in der Hand, einer topographischen Karte auf dem Tisch und einer gehörigen Portion Geduld - zu finden: Ley-Linien oder Leys. Immer wieder weisen Autoren (z. B. Erich von Däniken in seinem Buch „Die Steinzeit war ganz anders") darauf hin, dass alte Kultstätten auf diesen Ley-Linien liegen, geraden Zonen, die vielleicht astronomische Fixierlinien von Priesterastronomen oder Flugrouten von Außerirdischen sind. Dabei handelt es sich um einen Versuch, das Unerklärliche mit dem Unerklärlichen begreifbarer zu machen. Entdeckt - so glaubte er - hat diese Leys der englische Hobbyforscher Alfred Watkins. Er hat darüber fünf Bücher geschrieben, das erste 1922. Der Klassiker aber ist sein durchaus nüchternes Buch „The Old Straight Track" von 1925, in dem Watkins seine These detailliert vorstellt - wenn auch mit einer reichlichen Prise Naivität. Nach Watkins' ursprünglicher Definition ist ein Ley eine sich kerzengerade über die Landschaft erstreckende prähistorische Handelsstraße, deren Verlauf durch einfache Steinhaufen markiert war. Spätere Generationen hätten diese Markierungspunkte als heilige Orte verehrt und sie durch Menhire, Steinkreise, Hünengräber ersetzt, noch später durch Burgen, Kirchen, heilige Quellen und Kathedralen. Ziehe man heute auf einer Karte eine Linie durch Kirchen, Menhire und Kultplätze, dann könne man diese jungsteinzeitlichen „alten Wege" neu entdecken. Da über Leys so viele New-Age-Phantastereien und prä-astronautische Spekulationen im Umlauf sind, aber nur wenige seriöse, archäologisch auch fundierte Arbeiten, will ich versuchen, hier einen kurzen Überblick über meine Erkenntnisse zu dem weltweit zu beobachtenden Phänomen der Leys zu geben. Die Erklärungen, was Leys sein sollen oder sein könnten, sind vielfältig: Die einen sprechen von „Leylines", auf denen nur mit der Wünschelrute messbare Erdstrahlen wirksam sind, andere reden von prähistorischen Fluglinien, andere von astronomischen Sichtlinien und „prähistorischen Observatorien und Computern". Nur wenige Autoren, so scheint es, kümmert, was die Erbauer oder Konstrukteure von Liniensystemen über ihre Absicht sagten. Wir haben - wenn auch nur in Form von Legenden - Berichte über Leys in Deutschland sowie präzise Aufzeichnungen und zahlreiche wissenschaftliche Aufsätze über „heilige Straßen" bei den Indianern Nordamerikas, bei den Maya und Inka.
Prähistorische „Leys"
Heute wissen wir, dass die meisten von Watkins' Leys ganz einfach durch Zufall entstanden. Es gab nie ein flächendeckendes System aus sich überkreuzenden geraden Pfaden in der Steinzeit. Einige der offenbar authentischen Leys stammen erst aus dem Mittelalter und haben nichts mit der Jungsteinzeit zu tun. Es gab aber, auch das weiß man inzwischen, sowohl in der Jungsteinzeit als auch in der Bronzezeit, bei den Kelten, Römern und im Mittelalter, sogar noch im Barock, Landschaften, die von Menschenhand mit symbolischen geraden Linien überzogen wurden - teils aus Gründen des Totenkults, teils aus rein ökonomischen und strategischen Erwägungen, teils unter ästhetischen Gesichtspunkten. Es mangelt nicht an frühgeschichtlichen Anlagen, die dem Konzept eines Leys entsprechen und die tatsächlich Wege waren - allerdings keine profanen Handelswege, wie Watkins glaubte. In Großbritannien gibt es zahlreiche so genannte Cursus-Monumente, die aus der Jungsteinzeit (4.-2. Jahrtausend v. Chr.) stammen. Das sind oft kilometerlange, geradlinige Anlagen, die auf einen kommunalen Begräbnishügel („long barrow") hinführen. Archäologen vermuten, das seien Prozessionswege des Toten- oder Ahnenkultes gewesen. Im Dartmoor in Südengland finden sich Dutzende von doppelten Steinreihen aus der Bronzezeit, die Steinkistengräber mit Steinkreisen verbinden. Auf Stonehenge (siehe Abb. auf S. 141 und 143) führt eine in drei geraden Abschnitten angelegte Prozessionsstraße, die Avenue, zu. Verlängert man diese Cursus-Monumente und Avenuen auf der Karte, stößt man auf prähistorische Gräber, Menhire oder Langhügel. Das neolithische Steinkammergrab von Züschen in Hessen ist so orientiert, dass seine Achse auf den Wartberg zeigt, auf die Siedlung, aus der die im Grab beigesetzten Toten stammten (Magin 1996). Aus der Eisenzeit stammt das keltische Fürstengrab Glauberg in Hessen. Kerzengerade führte auf den Hügel ein Kultweg zu, der von Holzpalisaden begrenzt war (Mochner 2002). Aber nicht alle geraden Straßen, die vorgeschichtliche Anlagen verbinden, stammen aus prähistorischer Zeit. Auch hier hat Watkins geirrt. Manche „geraden Wege" stammen aus napoleonischer Zeit, als Landvermesser Grabhügel und Kirchtürme als Visiermarken beim Straßenbau benutzten. Bei Rösaring, Schweden, verbindet eine geradlinige Kultstraße mehrere Grabhügel, doch sie stammt aus dem Mittelalter. Auf dem Wurmberg im Harz bei Braunlage befindet sich ein möglicherweise aus der Bronzezeit stammendes Steinkistengrab, auf das eine gepflasterte, kerzengerade Straße zuführt. Pollenanalysen zeigen, dass der Pflasterweg im Hochmittelalter angelegt wurde (Lauer 1979, dort weitere Quellen).
„Leys" in europäischen Sagen und Traditionen
Die Sache mit den „Leys" ist also viel komplizierter, als sich Alfred Watkins dachte. Viele Linien sind offenbar reine Zufallstreffer, andere stammen nachweislich aus dem Mittelalter - eine kerzengerade jungsteinzeitliche Handelsstraße hat bislang noch niemand entdeckt. Aber erstaunlicherweise erzählt die deutsche Sage von Straßen, die geradlinig und unsichtbar (auch Watkins' Straßen sind bis auf die Markierungen nicht ausgebaut) durch die Landschaft verlaufen: von den Geisterwegen. Der „Geisterweg", berichtet der Volkskundler Mengis (1987), „ist immer derselbe, auf ihm begegnet man sehr oft den Geistern. Stets zieht er in gerader Linie über Berg und Tal, über Wasser und durch Sümpfe (Irrlichter!), in den Dörfern hart über die Häuser hin oder mitten durch sie hindurch. Entweder geht er von einem Friedhof aus oder endet daselbst. Diese Vorstellung hängt offenbar mit dem früher verbreiteten Brauch zusammen, die Leiche auf besonderen Totenwegen zum Friedhof zu fahren, sodass also diesem Weg dieselbe Eigenschaft zukommt wie dem Friedhof selbst, er ist ein Tummelplatz der Totengeister." Mengis beschreibt den Geisterweg nach Quellen aus dem 19. Jahrhundert. Einzelne Geisterwege wurden aus dem Vogtland, der Oberpfalz, der Schweiz und dem Kanton Unterwalden gemeldet. Recht anschaulich berichtet eine Sage aus dem ostpreußischen Ragnit (litauisch: Ragaine) von einem Geisterweg. Die Sage gibt uns zugleich einen Einblick in die abergläubische Furcht der Menschen vor dieser Linie. Die „Leichenflugbahn" verband den deutschen mit dem litauischen Friedhof der Stadt. Sie war geradlinig, wenige Fuß breit und befand sich nur knapp über dem Erdboden. Auf jenem Strich zwischen beiden Friedhöfen „leidet es weder Baum noch Strauch, weder Haus, noch Mauer, noch Zaun oder Hecke, denn die Toten (...) besuchen sich in stürmischen Nächten und fliegen in der Luft von einem Gottesacker zum anderen. Sie fliegen aber nicht hoch über der Erde, und deshalb leiden sie auch keinen nur wenige Ellen hohen Gegenstand auf ihrem Weg." In der Sage baut nun ein Städter, der den Einheimischen keinen Glauben schenkt, sein Haus mitten auf der Leichenflugbahn. Die Strafe folgt auf den Fuß, denn immer wieder reißen die in der stürmischen Nacht vorbeiziehenden Toten ihm das Haus ein. (Eine ähnliche Strafe ereilt Iren, die auf den fairy paths - den Koboldwegen - ihre Häuser bauen, sowie die Bauern im andalusischen Alpujarras-Gebirge, die die Wege der hadas, der Kobolde, verbauen. In den Alpujarras sieht man Häuser, bei denen eine Ecke abgeschnitten wurde, um die Geisterwege nicht zu verstellen.) Als der Ragniter schließlich entnervt aufgab, „baute (er) sein Haus ein wenig seitab, sodass es nicht mehr in dem Strich zwischen den Gottesäckern lag. Dort hat es viele stürmische Nächte unbeschadet ausgehalten und steht heute noch." Ein anderer Bauherr beobachtete den Flug der Leichen und steckte ihre Bahn mit Fähnchen ab. Er vermied so, dass sein Haus niedergerissen wurde (Hinze und Diederichs 1983, S. 138 f., nach Quellen von 1840, 1865 und 1871). Hier finden sich Elemente der Wilden Jagd (Magin 1993), des Geisterumzugs zum Winteranfang, der die Herbststürme als Durchzug Wotans und der gefallenen Krieger und Ahnen erklärt, vermischt mit der Sage des vom Friedhof ausgehenden Geisterwegs. Tatsächlich sind Totenwege, wie im „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens" vermerkt, noch in vielen Gegenden Deutschlands zu finden, besonders dort, wo ein zentraler Friedhof oder eine zentrale Kirche ein größeres Umland bedienten, und die jeweiligen Dorfkirchen nur Filialkirchen eines Zentrums waren, das alleine das Recht hatte, die Toten zu bestatten. Unter der Überschrift „Leichenweg" führt das „Handwörterbuch" aus: „Bis in neuere Zeit gilt vielfach die Vorschrift, dass man die Leiche auf einem bestimmten Weg (Leichenweg, Totenweg, Notweg, Kirchweg, Hellweg) zu Grabe bringen muss. Es ist der althergebrachte Weg, Hauptweg, oft auch ein besonderer nur zu diesem Zweck benutzter, von dem man nicht abweichen soll, auch wenn es kürzere Straßen gibt." Tatsächlich gibt es in Hessen die Vorschrift, dass nicht der „kürzeste Weg" (also der Luftweg, eine Gerade) genommen werden darf - offenbar, damit der Geist nicht in das Haus zurückfindet, in dem er gestorben ist. Denn, wir haben es bereits mehrfach gehört, Geister bewegen sich auf geraden Wegen. Einige dieser Toten-, Leichen- oder Kirchwege sind noch erhalten und auf Karten eingezeichnet. Manch ein Straßenname erinnert noch an den „alten Kirchweg". So führt zwischen Groß- und Kleiningersheim im Landkreis Ludwigsburg der „Totenweg" in unregelmäßigem Verlauf durch die Weinberge auf den Friedhof von Großingersheim, mussten die Christen im schwäbischen Bönnigheim Jahrhunderte lang zu der mehrere Kilometer entfernten Michaelskirche auf dem Michaelsberg bei Cleebronn wandern, wenn es um Taufe und Begräbnis ging (Rundschau Bietigheim, 3. 2. 1994), verläuft ein „Totenweg" bei Bahnbrücken in Stromberg unregelmäßig über einen Bergrücken, gibt es auf der Hohen Venn einen „Kirchhofsweg" von Althattlich nach Mützenich und Konzen (Wendt, S. 64; weitere Beispiele in Magin 1993a). Totenwege waren, zumindest in Deutschland, nicht geradlinig. Das „Handwörterbuch" betont, sie sollten so umständlich wie möglich sein. Das heißt doch aber: Weil sich der Geist des Toten - wie die Sagen vom „Geisterweg" und der „Leichenflugbahn" zeigen - geradlinig fortbewegt, kann man ihn durch Umwege verwirren und so an seiner Wiederkehr als spukender Geist hindern. Aus dem gleichen Grund schrecken Spiralen, Spinnweben und Pentagramme, die Liniengewirre bilden, Hexen und böse Geister! Es gibt also aus Deutschland eine erstaunlich hohe Zahl von verwandten Sagenmotiven, die von geraden Linien erzählen. Findet man auch in anderen Weltgegenden diese Linien, die entweder den Ahnen oder mythischen Kräften geweiht sind?
Literatur:
- Dronfield, Jeremy (1996): The vision thing: Diagnosis of endogenous derivation in abstract arts. Curr. Anthropol., 37 (2), 373-391
- Hodgson, D. (2000): Shamanism, phosphenes, and early art: An alternative synthesis. Curr. Anthropol., 41 (5), 866-873
- Lewis-Williams, J. D.; Dowson, T. A. (1988): The signs of all times - entoptic phenomena in upper paleolithic art. Curr. Anthropol., 29 (2), 201-245
Straßen der nordamerikanischen Indianer
In der prä-astronautischen Literatur wird hin und wieder auf die nordamerikanischen Bildhügel hingewiesen. Tatsächlich ist der ganze Osten der USA voller indianischer Ringwälle, Erdhügel in Tiergestalt, konzentrischer vieleckiger Erdwälle, dazu kommen die Ruinen riesiger Pyramidenstädte verschiedener Indianernationen aus unterschiedlichen Zeiten. Erst kürzlich wurde entdeckt, dass die ältesten dieser Wallanlagen - wie auch die viel jüngeren Pyramidenstädte nach mexikanischem Vorbild - durch gerade Linien verbunden waren. Zwei geradlinige, 50 Meilen lang parallel verlaufende Erdwälle, die eine kerzengerade Straße begrenzen, verbinden die indianischen Kultanlagen von Newark und Chillicothe in Ohio. Die Erdpyramiden und -wälle wurden von den Indianern der so genannten Hopewell-Kultur errichtet. Zuerst wurden Teile dieser Straße 1862 von James und Charles Salisbury bemerkt, heute ist nur noch ein vom Octagon State Memorial in Newark wegführendes, zwei Meilen langes Teilstück erhalten (siehe Abb. auf S. 144). Die konzentrischen Erdwälle von Chillicothe, deren Achse auf den nördlichsten Mondaufgangspunkt zeigt, liegen direkt in der Verlängerung dieses Teilstücks. Der Archäologe Brad Lepper hat daraufhin Luftbilder überprüft und ein weiteres Stück der geraden Linie elf Meilen von Newark entfernt entdeckt. (Hicks 1999; INFO Journal, Herbst 1994, S. 52; Kennedy 1996, S. 70-75) Dieses Ley datiert zwischen 300 v. Chr und 500 n. Chr, ist also älter als die geraden, „Sacbeob" genannten Maya-Straßen. Die Hopewell-Kultur mit ihren riesigen Erdwällen in Form konzentrischer Ringe und Vielecke sowie von Tieren wurde im Osten der USA abgelöst von anderen regionalen Ausprägungen der Mound-Builder-Kultur. Und wieder Leys: Die indianische Großstadt Cahokia, die etwa 600 n. Chr. in der Nähe des heutigen St. Louis, Missouri, gegründet wurde, bestand aus rund 100 bis zu 30 m hohen Erdpyramiden, die als Tempelplattformen dienten oder Wohnhäuser trugen. In seiner Glanzzeit (die Stadt bestand fast 700 Jahre lang) glich Cahokia einer Azteken- oder Maya-Metropole mit gewaltigen Pyramiden und Plazas. „Cahokia", schreiben Peter Nabokov und Dean Snow (1992, S. 172), „war eine geplante Stadt, die an mehreren (...) Kreisen aus hochkant stehenden Balken, die als Observatorien dienten, (...) ausgerichtet war." Die Planer von Cahokia benutzen Linien, die Pyramiden, Holzkreise und Holzpfosten miteinander verbanden, um den Standpunkt neuer Tempel und Pyramiden festzulegen: Sie befanden sich im Schnittpunkt von astronomischen Visierlinien und von durch Tempel und Pyramiden gebildeten Leys. Durch dieses Liniennetz wurde jeder sakrale Punkt der Stadtanlage symbolisch mit jedem anderen verknüpft, entstand ein „meta pattern", das wiederum heiligen Symbolen der Erbauer entspricht. So wie eine mittelalterliche Kathedrale das irdische Ebenbild des Himmels war, so symbolisierte der Stadtaufbau die kosmische Ordnung.
Heilige Straßen in Mittel- und Südamerika
Die Maya nannten ihre heiligen, kerzengeraden Straßen, die als erhöhte, gepflasterte Steindämme durch Urwälder und Äcker verliefen, Sacbe (Plural: Sacbeob). Die geraden Straßen verbanden die Hauptstädte der Mayastaaten mit ihren Satellitenstädten, waren aber „in erster Linie (...) Prozessions- und Pilgerwege" (Schele und Freidel 1991, S. 604). Die Inkastraßen waren ähnlich genial konstruiert wie die Maya-Sacbeob, dienten allerdings militärischen und infrastrukturellen Zwecken. Doch kennen auch die Inka heilige Linien für rein zeremonielle Zwecke, die ähnlich wie Geisterwege im Gelände selbst nicht sichtbar und wie Leys durch Heiligtümer, heilige Quellen und Menhire im Gelände markiert waren. Der spanische Chronist Barnabé Cobo beschrieb gegen Mitte des 17. Jahrhunderts den Haupttempel Qorikancha in Cuzco als „das Zentrum, von dem eine symbolische, geheiligte Landschaft Cuzcos, und damit des ganzen Inkareiches, in einem unglaublich komplexen, aber logisch angeordneten System von Heiligtümern ausging, die in geraden Linien angeordnet waren" (nach Kolata 1992, S. 303f). Cobo schreibt, es liefen vom Zentraltempel Qorikancha in Cuzco „wie von einem Zentrum verschiedene Linien aus, welche die Inkas Ceques nennen. Sie bildeten vier Teile, die den vier königlichen Straßen entsprachen, die von Cuzco ausgingen. An jedem dieser Ceques lagen der Reihenfolge nach die Heiligtümer, die es in Cuzco und seinen Distrikten gab, wie Stationen heiliger Orte, deren Verehrung allen gemeinsam war. Jeder Ceque lag in der Verantwortung bestimmter Sippen und der Familien der Stadt Cuzco, aus deren Reihen die Wärter und Diener kamen, die sich um die Heiligtümer ihrer Ceques kümmerten und darauf achteten, dass zur passenden Zeit die vorgeschriebenen Opfer dargebracht wurden." Es gab 41 Ceques in vier Abteilungen mit insgesamt 328 Huacas oder Wakas, inkaischen Heiligtümern. Die an einem Ceque wohnenden Menschen waren für dessen Unterhalt zuständig. Sie mussten an bestimmten Festtagen an den Wakas Opfer bringen. Das Ceque-System hatte zahlreiche Bedeutungen und Funktionen: Es war die riesenhafte Darstellung des Sterne-Mond-Kalenders, jeder der 328 Wakas verkörperte einen Tag des Inka-Jahres, die dort verrichteten Zeremonien sollten zudem Wachstum in der Landwirtschaft garantierten. Gleichzeitig bildete Cuzco mit den vom Sonnentempel ausstrahlenden Ceques die symbolische Darstellung des gesamten Inkareiches. Das Ceque-System ist also - ähnlich wie die Sichtlinien zwischen den Tempeln von Cahokia - ein Abbild des mythologischen Weltbildes, auf die Erde projiziert. Das Ceque-System entspricht zudem dem Bild eines Quipus, einer Knotenschnur, die um Cuzco ausgebreitet ist (Kidwell 1992, S. 438): Die einzelnen Schnüre entsprechen ausgestreckt der Linie, die Huacas/Wakas den Knoten.
Flughafen Nazca?
Es wäre falsch, aus all diesen Linien zu schließen, dass es eine weltweit verbreitete Urkultur gab, eine Art Atlantis, das heilige Linien anlegte. Die heilige Linie taucht zwar in praktisch allen Kulturen auf, aber das Gleiche gilt für kreisförmige oder rechteckige Bauten und dreieckige Bezirke. Die Linie ist nun einmal eine der elementaren geometrischen Formen. Es gibt keinen Grund, die von Astroarchäologen und von Alfred Watkins entdeckten „Visierlinien" und Leys in England und Wales so profanen Zwecken wie der wissenschaftlichen Beobachtung oder dem Handel zuzuschreiben. Wo immer Leys auftauchen, scheinen sie in Verbindung mit den Ahnen zu stehen, den Toten, mit den Elementargeistern, die das Wachstum des Landes zu garantieren versprechen. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass die prähistorischen Bewohner Englands wie andere Kulturen auch Leys vor allem für den Toten- und Ahnenkult errichteten. Die geraden Steinreihen, die in Dartmoor Steinkreise mit Steinkisten verbinden, sind ein untrügliches Zeichen dafür, dass Leys genau diese Funktion haben. Warum jedoch die Leys immer mit Geistern, Göttern und Ahnen und Fruchtbarkeit zu tun haben, darüber gibt es viele Theorien. Am überzeugendsten ist jene von Paul Devereux (2001), dass sich das Ley (nehmen wir nun einmal diesen Oberbegriff, der sich eingebürgert hat) aus der Urerfahrung der Astralreise ableitet. Paul Devereux stellt fest, dass der Doppelkontinent Amerika nicht nur heute noch die meisten schamanischen Gesellschaften aufweist, sondern dass es dort auch bei fast allen indigenen Kulturen Systeme von Netzwerken gerader Linien gab (z. B. bei den Hopewell, Adena, Anasazi, Maya, Tairona, Nazca, Inka sowie bei den Indianern Boliviens und Chiles). In der schamanischen Religion trennt sich der Schamane in Trance von seinem Körper, um die Ahnen zu befragen. Seine Luftreise stellte man sich als geradlinig vor, schließlich sprechen wir noch heute von der kürzesten Entfernung als der „Luftlinie". Durch den Besuch und die Befragung der als Götter verehrten Ahnen sichert der Schamane die Fruchtbarkeit des Landes. In den Sagen wird die Luftreise oft dahingehend beschrieben, dass die Seele des Schamanen durch einen Faden mit seinen Körper verbunden bleibt, damit sie in ihn zurückfinden kann. Geister, Ahnen, der Kontakt zwischen Übernatürlichem und Menschlichem, das Symbol des Fadens, die Idee, man könne eine Seele (einen Geist) dadurch verwirren, dass man ihn nicht auf dem geraden Weg zum Friedhof bringt - alle diese Punkte tauchen auch in den hier besprochenen Liniensystemen in Europa, Nord- und Südamerika auf. So ist es auch sehr wahrscheinlich, dass die Nazca-Linien, die so sehr den anderen Liniensystemen der altamerikanischen Kulturen gleichen (und es gibt zahllose weitere, teilweise in der Landschaft erhaltene gerade Linien im gesamten Andengebiet), ein früher Entwurf des Cuzcoischen Ceques-Systems sind, zumal die an den Nazca-Linien dargebrachten Opfer auf einen Wasser- und Fruchtbarkeitskult hindeuten. Sind die großen Bildhügel der Mound-Builders, mutmaßt zumindest Devereux, die Tierdarstellungen in Nazca und die Weißen Pferde Englands Wegmarkierungen für den Geist des Schamanen, sind es die Totemtiere seines Clans? (Das allerdings ist Spekulation. Die Tierzeichnungen in Nazca sind lange vor den Trapezen und Linien entstanden; auch in England gibt es nur drei prähistorische Bilder.) Gerade in den Kulturen, in denen gehäuft Liniensysteme und große Erdzeichnungen auftreten (so war auch die Stadt Cuzco in Form eines riesigen Pumas angelegt), ist der rituelle Genuss von Halluzinogenen nachweisbar. In letzter Zeit häufen sich auch für die europäische Vorzeit archäologische (Dronfield 1995) und ethnologische Belege (Herodot 4. Buch, 3. Kapitel, 73-74) für den Gebrauch von Marihuana, auch war wohl Opium bereits bekannt (Schulz 2002). Andere Kulturen, etwa in China, bei den Inka, Hopewell und den Etruskern (vgl. dazu Pallottino 1988, S. 314-319), haben eigene Liniensysteme mit symbolischen Bedeutungen angelegt, kalendarische, astrologische und topografische Bezugspunkte in ihre Systeme aufgenommen. Diese Lehren bilden häufig komplexe Systeme, die zwar gerne esoterisch und prä-astronautisch gedeutet werden, aber möglicherweise nur extreme Weiterentwicklungen der Vorstellung sind, man könne ein visionär erlebtes „heiliges Reich" als „heilige Landschaft" im Irdischen wiedergeben.
Literatur:
- Devereux, Paul (2001): Schamanische Traumpfade. AT Verlag, Aarau
- Dronfield, Jeremy (1995): Migraine, Light and Hallucinogens: The Neurocognitive Basis of Irish Megalithic Art. Oxford Journal of Archaeology, 14, 3
- Hicks, Ronald (1999): The Great Hopewell Mystery. Archaeology, 52, November/December 1999, 76
- Hinze, Christa; Diederichs, Ulf (Hrsg.) (1983): Ostpreußische Sagen. Eugen Diederichs, Köln
- Josephy, Alvin M. (Hrsg.) (1992): Amerika 1492. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
- Kennedy, Roger G. (1996): Die vergessenen Vorfahren. Droemer Knaur, München
- Kidwell, Clara Sue (1992): Systeme des Wissens. In: Josephy, Alvin M. (Hrsg.): Amerika 1492, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 459
- Kolata, Alan (1992): Im Reich der vier Weltgegenden. In: Josephy, Alvin M. (Hrsg.): Amerika 1492, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 267-307
- Lauer, Henri (1979): Archäologische Wanderungen in Ostniedersachsen. Selbstverlag, Göttingen
- Magin, Ulrich (1993a): Mittelalterliche Geomantie in Deutschland. In: Pieper, Werner (Hrsg.): Geomantie. Der Grüne Zweig, Löhrbach
- Magin, Ulrich (1993b): Wege vom „Wilden Heer". Magazin für Grenzwissenschaften, 4/1993, 186-190
- Magin, Ulrich (1996): Geheimwissenschaft Geomantie. C. H. Beck, München
- Magin, Ulrich (1999): Kathedralenkreuze, Geisterwege und Leichenflugbahnen - was wir wirklich über Leys wissen. Hagia Chora, Oktober 1999
- Mengis, Carl (1987): Geisterweg. In: Bächtold-Stäubli, H. (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Band 3, Sp. 557. De Gruyter, Berlin
- Mochner, Matthias (2002): Frühe Spuren der Kelten. Spektrum der Wissenschaft, Mai 2002, 96-99
- Nabokov, Peter; Snow, Dean (1992): Die Waldbauern. In: Josephy, Alvin M. (Hrsg.): Amerika 1492, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 147-180
- Pallottino, Massimo (1988): Etruskologie. Geschichte und Kultur der Etrusker. Birkhäuser, Basel
- Schele, Linda; Freidel, David (1991): Die unbekannte Welt der Maya. Albrecht Knaus, München
- Schulz, Matthias (2002): Blume des Bösen. Spiegel 15/2002, 8. April 2002, 216
- Watkins, Alfred (1922): Early British trackways, moats, mounds, camps, and sites. The Watkins Meter Company, Hereford
- Watkins, Alfred (1925): The Old Straight Track. Its mounds, beacons, moats, sites and mark stones. Methuen, London
- Wendt, Christoph (1994): Das Hohe Venn. Meyer & Meyer, Aachen
Ulrich Magin, geb. 1962 in Ludwigshafen, Studium der Angewandten Sprachwissenschaft, heute Lektor bei einem großen deutschen Verlag. Sein Interesse gilt vor allem der Frage, wie verschiedene Gesellschaften von der Norm abweichende Erlebnisse integrieren oder abweisen. Korrespondent der Fortean Times und der „International Fortean Organisation" sowie Redaktionsmitglied des Skeptiker. Wichtigste Buchveröffentlichungen: „Von UFOs entführt" (1991), „Trolle, Yetis, Tatzelwürmer" (1993), „Geheimwissenschaft Geomantie" (1996), „Der Ritt auf dem Kometen" (1996), „Ausflüge in die Anderswelt" (2000). Anschrift: Augustastr. 85, 76437 Rastatt
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 4/2002.