Der Positivismus hat die Wissenschaftsphilosophie von ca. 1830 an bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein geprägt. Einige seiner Ideen wirken bis heute nach, die meisten haben sich jedoch als unhaltbar erwiesen. „Positivist" ist heute ein Etikett, mit dem gern diejenigen belegt werden, die angeblich eine antiquierte Wissenschaftstheorie vertreten. Dies geschieht teilweise zu Recht, teilweise aber auch zu Unrecht. Was haben die Positivisten wirklich vertreten?
Als Vater des Positivismus gilt der französische Philosoph Auguste Comte (1798-1857). Im Gegensatz zur spekulativen Philosophie seiner Zeit vertrat er die Auffassung, man solle sich mit dem Positiven, d.h. mit dem Gegebenen (dem Tatsächlichen), Nützlichen und Sicheren beschäftigen und nicht mit dem Spekulativen, Unnützen und Unklaren. Zu den Hauptvertretern gehörten in England der Philosoph John Stuart Mill (1806-1873), in Deutschland der Philosoph Richard Avenarius (1843-1896) und der Physiker Ernst Mach (1838-1916). Der Positivismus von Avenarius und Mach ist auch unter dem Namen Empiriokritizismus bekannt.
Die wichtigsten Thesen und Forderungen des Positivismus sind die folgenden (Kamitz 1973):
- Szientismus: alle Erkenntnis hat sich an den Methoden der Wissenschaft zu orientieren, wobei der Wissenschaft zugleich Omnikompetenz zukommt (f. weitere Szientismusbegriffe s. Mahner 2006a).
- Intersubjektivitätspostulat: echte Erkenntnis muss intersubjektiv verständlich und nachprüfbar sein.
- Empirismus und Phänomenalismus: die Quelle aller echten Erkenntnis ist die Sinneserfahrung und nur (Sinnes)Erscheinungen sind erkennbar; folglich sind die Dinge hinter den Erscheinungen unerkennbar; mit anderen Worten: nur das Beobachtbare ist erkennbar.
- Antimetaphysik: die Beschäftigung mit dem nicht sinnlich Erfahrbaren ist sinnlos; mit anderen Worten: Metaphysik ist Unsinn (Mahner 2006b).
- Deskriptivismus: Aufgabe der Wissenschaft ist es, Erscheinungen zu beschreiben und nicht etwa durch dahinter verborgene Dinge, Eigenschaften oder Mechanismen zu erklären.
- Induktivismus: Gesetzesaussagen und Theorien werden durch Induktion aus beobachteten Einzelfällen gewonnen.
- Instrumentalismus: wissenschaftliche Theorien sind lediglich Instrumente zur Vorhersage und zur Daseinsbewältigung, denn sie beschreiben keine Dinge an sich, sondern lediglich Zusammenhänge zwischen Erscheinungen (s. Vollmer 1993).
- Einheit der Wissenschaft: alle wissenschaftlichen Disziplinen weisen fundamentale Gemeinsamkeiten auf, wie etwa die zuvor aufgelisteten Prinzipien.
Eine Weiterentwicklung erfuhr der Positivismus in den 1920er Jahren durch den sogenannten Wiener Kreis. Zu diesem zählten z.B. die Philosophen Moritz Schlick (1882-1936) und Rudolf Carnap (1891-1971) sowie der Wirtschaftswissenschaftler Otto Neurath (1882-1945). Auch der Berliner Philosoph Hans Reichenbach (1891-1953) zählt zu den bekannteren Vertretern dieser Schule. Zu den wichtigsten Neuerungen dieses Neopositivismus gehörten (Kamitz 1973):
- die rigorose Einbeziehung von Logik und Mathematik in die Wissenschaftstheorie, weshalb der Neopositivismus auch als logischer Positivismus oder logischer Empirismus bezeichnet wird.
- Verifizierbarkeitspostulat: eine Aussage ist nur dann wissenschaftlich, wenn sie durch eine Reihe von Definitionen in Beobachtungssätze umgeformt werden kann (die sogenannten Protokollsätze), wobei Aussagen dann als verifizierbar gelten, wenn sie aus solchen Protokollsätzen abgeleitet werden können.
- Physikalismus und Reduktionismus: alle wissenschaftlichen Aussagen müssen letztlich in physikalische Aussagen übersetzbar sein, wobei die Einheit der Wissenschaft durch Reduktion auf die Physik hergestellt wird.
Dank seiner Strenge und Wissenschaftsorientierung übte der Neopositivismus einen großen Einfluss auf die Naturwissenschaftler, vor allem auf die Physiker, seiner Zeit aus. Besonders hervorzuheben ist hier der Operationalismus, dessen Spuren bis heute in der Physik erkennbar sind.
Nach der Blütezeit des Neopositivismus in den 1920er und 30er Jahren begann jedoch dessen Auflösung. Dazu haben sowohl interne wie externe Kritik beigetragen. Dass ihr Programm weitgehend undurchführbar ist, haben die Neopositivisten aufgrund ihrer Redlichkeit und analytischen Strenge teilweise selbst erkannt. Von außen her wurde der Neopositivismus vor allem durch Karl Popper (1902-1994) bedrängt. Dieser stellte in seiner Wissenschaftsphilosophie viele der zentralen Thesen des Neopositivismus auf den Kopf. So setzte er etwa anstelle von Phänomenalismus, Instrumentalismus und Deskriptivismus den Realismus, anstelle des Verifizierbarkeitspostulats das Falsifizierbarkeitspostulat und anstelle des Induktivismus den Deduktivismus. (Dem Deduktivismus zufolge gewinnen wir Theorien nicht durch Induktion aus Sinnesdaten, sondern wir formulieren, vereinfacht gesagt, kühne Hypothesen und deduzieren daraus das, was beobachtet werden müsste, wenn die Hypothese richtig ist.) In Abgrenzung zum logischen Empirismus nannte er schließlich seine Philosophie kritischen Rationalismus. In der Biologie bzw. Biophilosophie wandte sich vor allem der Evolutionsbiologe Ernst Mayr (1904-2005) gegen die neopositivistische These, biologische Aussagen und Theorien ließen sich auf die Physik reduzieren.
Was bleibt vom Positivismus? Im Wesentlichen als gültig kann man heute noch das Intersubjektivitätspostulat ansehen sowie die Überzeugungen, dass wissen- schaftlicher Erkenntnis ein bevorzugter Status zukommt und alle Wissenschaften eine Einheit aufweisen, obwohl diese nicht in der Reduktion auf die Physik bestehen kann, sondern eher methodologischer Natur ist. Der strenge logisch-analytische Ansatz lebt schließlich in der sogenannten analytischen Philosophie weiter. Nach dem Positivismus hat keine neuere Schule - auch die Poppers nicht - einen derart großen, vereinheitlichenden Einfluss auf die Wissenschaftsphilosophie mehr ausgeübt.
Dr. Martin Mahner
Literatur
- Kamitz, R (1973) Positivismus. München: Langen-Müller
- Mahner, M (2006a) Szientismus. Naturwissenschaftliche Rundschau 59: 401-402
- Mahner, M (2006b) Metaphysik. Naturwissenschaftliche Rundschau 59: 177-178
- Vollmer, G (1993): Wider den Instrumentalismus. In: ders., Wissenschaftstheorie im Einsatz. Stuttgart: Hirzel-Verlag.