Druckerschwärze und Sternenstaub
Bernd Harder
Und dies geheimnisvolle Buch, von Nostradamus' eigner Hand, ist dir es nicht Geleit genug?
Auch Goethes Held Faust kam auf seiner Suche nach den Welträtseln nicht an dem großen Seher vorbei, nachdem er vergeblich in Philosophie, Medizin, Juristerei und Theologie nach Erkenntnis geforscht hatte. Doch am Ende erscheint die Szene in der Tragödie Erster Teil eher wie eine Persiflage: Der Erdgeist, der sich aus Nostradamus' Zauberbuch materialisiert, bleibt jede klare Antwort schuldig. Ganz und gar unmissverständlich urteilt dagegen der Aufklärer Voltaire, für den "der erste Prophet der erste Schurke war, der einem Dummkopf begegnete". Zu allen Zeiten habe es solche Lügner gegeben, "Sybillen und Gestalten wie Nostradamus". Auch der französische Dichter Pierre Corneille mag an Nostradamus gedacht haben, als er 1680 in "Le Feint Astrologue" die Sterndeuter parodiert:
Er betrachtet den Himmel in finsterster Nacht, wälzt ein dickes Buch und malt tausend Figuren.
Dunkelheit, Dreistigkeit und Beschwörung des Zufalls -- das ist nach Corneilles Poesie der Dreiklang, mit dem Propheten die auf kosmische Fingerzeige gestimmten Saiten der Seele zum Klingen bringen. Der calvinistische Reformator Theodore de Bèze (1519–1605) komponierte aus dem Namen Nostradamus gar einen lateinischen Spottspruch:
Nostra damus cum falsa damus, nam fallere nostrum est; et cum falsa damus, nil nisi nostra damus.
Zu Deutsch etwa:
Wir geben das Unsere, wenn wir Falsches behaupten, denn Falsches zu sagen ist unsere Art; und wenn wir Falsches sagen, geben wir das Unsere.
Scharlatan oder Inspirierter? An Nostradamus scheiden sich die Geister.
Hier ruhen die Gebeine des hochrühmlichen Michael Nostradamus. Er allein ward unter allen Sterblichen für wert befunden, unter dem Einfluss der Sterne mit geradezu göttlich inspirierter Feder vom künftigen Geschehen der ganzen Welt zu künden,
ist auf der Grabplatte des provenzalischen Magiers in der Dominikaner-Kirche von Salon zu lesen. Seine Anhänger soufflieren ihm bis heute eine Art Kursbuch für den Lauf der Welt. So frohlockte etwa die Münchner Abendzeitung im Sommer 1999:
Auf diesen Augenblick hat die Menschheit schon 450 Jahre gewartet. Wir sind diejenigen, die bald erfahren werden, ob Michel de Notredame, Nostradamus genannt, der berühmte französische Prophet und Mediziner, ein glatter Lügner war. Falls er wahr sagte, erwartet uns Schlimmes. Denn der Juli im Jahr 1999 ist gekommen, jener bedrohliche Termin kurz vor der Jahrtausendwende, über den der Seher in seinem prophetischen Werk "Centurien" einst ausdrücklich berichtete.
"Ausdrücklich" stimmt in diesem Fall tatsächlich. Die Jahreszahl 1999 wird von Nostradamus genannt -- als eine der ganz wenigen konkreten Zeitangaben in seinem ansonsten eher verschwommenen Werk. Zwischen 1555 und 1558 verfasste Nostradmus 942 vierzeilige Verse, so genannte Quartains. Jeweils hundert davon bündelte er zu einer "Centurie". Die fehlenden 58 Vierzeiler der VII. Centurie blieben ungeschrieben.
Grammatikalisch willkürlich und in der Vermengung einer Vielzahl poetischer Stilmittel übermotiviert, voller biblischer Krypto-Zitate und geografisch-historischer Anspielungen, erwecken die "Centurien" dennoch den Eindruck einer geheimnisvollen Komposition aus Druckerschwärze und Sternenstaub. Im Vers 72 der X. Centurie heißt es:
Im Jahr neunzehnhundertneunzig und neun, im siebten Monat, wird ein großer Schreckenskönig vom Himmel herabsteigen, wird wieder auferstehen der große König von Angolmois, Mars regiert vorher und nachher durch Glück.
Das sind Worte, die nach Katastrophe klingen. Torschlusspanik angesichts des magischen Datums 1999 befiel denn auch nicht nur Schwärmer und Apokalyptiker, sondern auch den international anerkannten Wissenschaftler Alexander Tollmann. Der ehemalige Leiter des geologischen Instituts der Universität Wien erwartete die schockierende Dynamik des Weltuntergangs spätestens um den 11. 8. 1999 herum, den Tag der totalen Sonnenfinsternis in Europa: zuerst Dritter Weltkrieg, dann Endzeit-Impakt eines riesigen Komenten.
Als sich die Menschheit statt vor ihren Schöpfer zu treten in spezialbebrillter Partystimmung zeigte, war Tollmann fassungslos:
Es ist so unglaublich, dass das alles nicht geschehen ist. Nostradamus hat bisher zu hundert Prozent Recht gehabt. Er hat alles richtig beschrieben, etwa Hitler,
erklärte er einem Reporter. Wirklich? Nirgendwo in den "Centurien" ist von Hitler die Rede, sondern nur von "Hister". Und mit einer Person hat die Verwendung von "Hister" bei Nostradamus gar nichts zu tun. "Hister" ist ein Toponym, das in den "Centurien" nur in Verbindung mit Ortsbeschreibungen auftaucht -- und zwar handelt es sich ganz konkret um den alten lateinischen Namen für die Donau.
Der vorausgesagte "große Schreckenskönig" jedoch tauchte im Sommer 1999 wirklich auf. Seine Regentschaft währte genau zwei Minuten.
Dass Nostradamus inzwischen zum populärsten Astrologen weltweit aufgestiegen ist, ist ein Phänomen, das er selbst nicht vorhergesagt hat,
erklärt die Leiterin des kleinen Nostradamus-Museums in Salon-de-Provence, Jacqueline Allemand, ihren Besuchern mit ironischem Lächeln - und wird bestätigt u. a. durch das Internet. In der Woche nach den Attentaten vom 11. September etwa war "Nostradamus" die Nummer eins unter den Anfragen bei den Suchmaschinen. Und wer suchte, wurde natürlich auch fündig: Zahllose Fälschungen und Umdeutungen machten in jenen Tagen die Runde, um mit dem Namen des Meisters Sensationsmeldungen zu produzieren (siehe auch Skeptiker 3/01, S. 123).
In Salon also, rund 40 Kilometer südlich von Avignon, bezog Nostradamus 1547 ein mehrstöckiges Steinhaus an der Place de la Poissonnerie. Hier gründete er mit der vermögenden Kaufmannswitwe Anne Ponsarde eine Familie, hier empfing er kurz vor seinem Tod die Königsmutter Katharina von Medici. Heute heißt die ehedem namenlose Sackgasse im Stadtteil Ferreiroux denn auch "Rue de Nostradamus". Und der Prophet weist mit müdem Blick zu seinem ehemaligen Haus mit der Nummer 11 -- von einem pompösen Wandgemälde auf einem Neubau. Gleich daneben steht der Souvenirshop. Mit einem gewissen Faible fürs Mondäne verfasst Nostradamus in Salon erst einmal absatzstarke Schriften wie "Das Schminken und die Gerüche", "Die Kunst des Einmachens" sowie Gesundheitsratschläge und Rezepte für Liebestränke. Dann verdient sich der angesehene Arzt mit jährlichen Almanachen und Prognostica sein Geld -- einer Art früher Esoterik-Literatur in Form eines Kalenders, der über die Tage und Monate hinaus Mondphasen, Wetterregeln und liturgische Termine ebenso umfasst wie den richtigen Zeitpunkt für den Bartschnitt bis hin zu vierzeiligen Orakeln über die Geschicke der Reichen und Mächtigen in Abhängigkeit von den astrologischen Vorzeichen. Der Erfolg der "Vorherverkündigungen" ist leicht begreiflich: In einer unbeständigen Welt bilden solche Prognosen Fixpunkte, versprechen Antworten auf drängende existenzielle Fragen und sind damit tröstlich. Daneben veröffentlicht Nostradamus mehrere aufschlussreiche Fachpublikationen, darunter die Übersetzung und Neuordnung eines lateinischen Werkes über die ägyptischen Schriftzeichen namens "Hieroglyphica", das von dem alexandrinischen Grammatiker und Philosophen Horapollon stammt.
Wir finden Nostradamus hier zum ersten Mal mit einer Thematik beschäftigt, die direkt in seine prophetische Produktion führt, das Enträtseln verborgener Bedeutungen, gepaart mit der poetisch-literarischen Bewältigung derselben,
kommentiert der Nostradamus-Forscher Elmar R. Gruber.
Es ist eine sternenklare Nacht im Jahr 1555, als Nostradamus zum Obergeschoss seines Hauses hinaufsteigt, wo sich sein Arbeitskabinett befindet. Gekleidet in einen doppelt mit Silberfäden verbrämten Umhang, lässt er sich auf einen dreibeinigen Messingstuhl fallen. Mit einem Lorbeerzweig rührt er in einer wassergefüllten Wahrsageschale:
Des Nachts sitze ich über geheimen Studien, allein bin ich und sitze auf ehernem Stuhl; Eine Flamme steigt empor, sie kommt aus der Einsamkeit, sie bringt hervor, woran man nicht vergeblich glauben soll.
So beschreibt Nostradamus seine Methode im Vers 1 der I. Centurie. Darin erscheinen seine Prophezeiungen als verrätselte Tagträume und fabulierte Phantasien. Und damit jener Gegenwart verhaftet, deren Nöte sie zu kompensieren suchten.
Bei Licht besehen, geht es in den "Centurien" z. B. um sterbende Könige, fallende Festungen und göttliches Missgeschick, um Verbrechen und Terror, Blitzschlag und Pest, Tod und Blut. Oder künden des Dunkelmanns Düster-Szenarien in Wahrheit von Hitler, Stalin, Napoleon, der Tschernobyl-Katastrophe, den beiden Weltkriegen, der Mondlandung und dem Terroranschlag auf das New Yorker World Trade Center? Die "Centurien" sind wie ein "kollektiver Rorschach-Test, in dem die Buchstaben die Rolle der Tintenkleckse einnehmen" (Elmar R. Gruber) -- der aber für Interpretationen den Vorteil hat, dass sich im Nachhinein fast alles hineingeheimnissen lässt. Zum Beispiel Vers 74 der VI. Centurie:
La dechassée au regne tournera, ses ennemis trouvez des coniurez: Plus que iammais son temps triomphera, Trois et septante à mort trop asseurez.
Als vor etwa 25 Jahren Jean-Charles de Fontbrune sich über die Schriften seines Landsmanns beugte, übersetzte er den Quartain wie folgt:
Die Linke wird an die Macht kommen, man wird entdecken, dass ihre Feinde Verschwörer sind. Mehr denn je wird ihre Zeit triumphieren, doch nach drei Jahren und siebzig Tagen steht ihr der sichere Tod bevor.
Fontbrunes Deutung: Die von linken Ministern regierte fünfte französische Republik werde "spätestens im September 1984" blutig zusammenbrechen. Wie kommt Fontbrune auf die Linke? "La dèchassée", teilte er mit, sei "ein Tanzschritt, der nach links ausgeführt wird; im Gegensatz zum chassée, der mit einer Rechtswendung verbunden ist." Es ist derselbe Vers, in welchem Théophile de Garencières im 17. Jahrhundert eine eindeutige Vorhersage der glücklichen Wiederseinsetzung des englischen Königs Karl II. (1660–1685) erkannte. Die Richter und Mörder seines Vaters Karl I. seien die erwähnten etwa siebzig Anhänger Oliver Cromwells, die man damals zum Tod verurteilt habe. (Tatsächlich wurden aber nur sechs hingerichtet.) Für den Nostradamus-Interpreten Charles Ward (19. Jahrhundert) beschreibt der Seher von Salon in VI,74 jedoch die Inthronisation, die Regentschaft und den Heimgang von Königin Elisabeth I. (1558–1603). James H. Brennan, wie Fontbrune ein Deuter aus unserer Zeit, hat wieder etwas ganz anderes im Sinn und übersetzt:
Sie, die abgesetzt wurde, wird wieder zur Herrschaft zurückkehren. Ihre Feinde wurden unter den Verschwörern gefunden, mehr als jemals zuvor wird ihre Zeit voller Triumphe sein. Dreiundsiebzig bis zum Tod mit großer Gewissheit.
Dieser Vierzeiler, erläutert Brennan, werde im Allgemeinen Elisabeth I. zugeschrieben, "obwohl sie mit siebzig, und nicht, wie der Vers konstatiert, mit dreiundsiebzig starb. Ich glaube, eine viel bessere Kandidatin wäre Benazir Bhutto, die Geschichte machte, als sie Pakistans erste weibliche Premierministerin wurde, dann aber durch Präsidentenerlass aus dem Amt entfernt wurde."
Verklausuliert und dunkel ist zumeist der Sinn oder aber sowieso abwesend, ohne dass er sich erst verflüchtigen musste,
handelt eine "Kulturgeschichte der Missverständnisse" die Prophezeiungen des Nostradamus als klassischen Fake ab. Zu Unrecht: Nichts deutet darauf hin, dass der raunende Provenzale ein Gaukler oder Betrüger war. Andererseits dürfte es den Nostradamus-Fans spätestens seit der Enttäuschung von 1999 schwer fallen, echte paranormale Fähigkeiten für ihr Idol zu reklamieren. Was erblicken wir wirklich, wenn wir dem Arzt und Astrologen die Maske des Propheten vorsichtig vom Gesicht nehmen? Vielleicht einen Jules Verne der Renaissance, der an den Wänden seiner Dachkammer die dunklen Schatten seiner Zeit irrlichtern sah und, vielleicht im Rauschzustand, in vierzeilige Gleichnisse übersetzte. Von "natürlichem Instinkt" und "poetischem Furor" schreibt Nostradamus in einem Brief an seinen König, Heinrich II. von Frankreich. Seinem ältesten Sohn César hinterlässt er in der Vorrede zu den Centurien:
Noch eines, mein Sohn, da ich den Begriff Prophet verwendet habe: Ich will mir in heutiger Zeit den Titel so großer Erhabenheit nicht zulegen. Denn wer heute Prophet genannt wird, hieß ehedem Seher. Denn der eigentliche Prophet, mein Sohn, ist jener, welcher Dinge sieht weit entfernt von jeder natürlichen Kenntniss.
Kein Prophet also, sondern ein "Seher" im Wortsinn? Einer, der mit offenen Augen, scharfem Blick und wachem Verstand durch die Welt geht und überall Elend, Epidemien, Ignoranz, Dummheit, Fanatismus, Neid, Falschheit, Machtgier, Lüge, Krieg und Missgunst sieht? Ein humanistisch beseelter Literat, der gegen das Elend seiner Zeit anschreibt? Als Michel am 14. 12. 1503 als Erstgeborener der angesehenen Notarsfamilie Notredame in Saint-Remy-de-Provence das Licht der Welt erblickt, scheinen die vier Reiter der Apokalypse Aufstellung bezogen zu haben. Das geschlossene christliche Weltbild fällt in Trümmer. Gerade ein Jahrzehnt zuvor hat Christoph Kolumbus Amerika entdeckt. 1491 fertigt Martin Behaim in Nürnberg den ersten Globus. Die Erfindung des Buchdrucks hat das Wissensmonopol der Klöster aufgelöst. Die drei mächtigen Nationalstaaten Spanien, Frankreich und England beherrschen Europa und verzetteln sich in immer neue Kriege und undurchschaubare Zweckbündnisse. Bald wird der Augustiner-Mönch Martin Luther gegen die Missstände in der römischen Kirche rebellieren und die Reformation lostreten. Nach dem Willen seiner Eltern soll Michel Arzt werden. Der Legende nach unterrichteten ihn seine beiden Großväter schon früh in Latein, Griechisch, Hebräisch, Mathematik und Himmelskunde. Wahrscheinlich aber übernahm ein Hauslehrer diese Aufgabe. Sicher ist, dass Michels Großvater väterlicherseits ein wohlhabender jüdischer Getreidehändler namens Crescas de Carcassonne war, der um 1460 zum Katholizismus konvertierte. Weil er vermutlich in der Marienkirche Notre-Dame-la-Principale zu Avignon die Taufe empfing, nannte sich die Familie fortan Nostredame. Diese Schreibweise entspricht dem Provenzalischen, in heutigem Französisch heißt es "Notredame". Mit 19 Jahren schreibt sich Michel de Notredame an der Universität Montpellier ein und latinisiert seinen Nachnamen zu Nostradamus. 1525 hält der schwarze Tod Einzug in die Stadt, und Nostradamus unterbricht sein Studium, um sich als Heilgehilfe nützlich zu machen. Das fürchterliche Leiden der Sterbenden, den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, den Giovanni Boccaccio später in seinem "Decamerone" beschreibt, erlebt Nostradamus hautnah mit. Hellsichtig weigert sich der junge Medicus, die Kranken zur Ader zu lassen -- und rettet damit nicht nur vielen Patienten, sondern vielleicht auch sich selbst das Leben. Denn unwissentlich unterbricht er so die Infektionskette der Pest, die auch durch Körperflüssigkeiten übertragen wird. Als Nostradamus vier Jahre später endlich zum Doktor der Medizin promovieren kann, eilt ihm längst der Ruf als unerschrockener Pestarzt voraus. Der wissenschaftliche Ritterschlag lässt nicht lange auf sich warten: Der berühmte Universalgelehrte Julius Caesar Scalinger ruft den 31-Jährigen nach Agen. Nostradamus richtet eine lukrative Praxis ein und heiratet ein 14-jähriges Mädchen, das ihn zum Vater eines Sohnes und einer Tochter macht.
Doch dann schlagen die Wogen des Schicksals umso heftiger über dem erfolgreichen Akademiker zusammen. Frau und Kinder sterben an Diphterie. Die Patienten bleiben aus. Mit dem strengen Rationalisten Scalinger überwirft er sich; vermutlich ging es dabei auch um Nostradamus übersteigertes Interesse an der Astrologie, die zu jener Zeit von vielen Ärzten auch als Diagnoseinstrument angewandt wird. 1538 verlässt Nostradamus Agen-de-Provence und durchwandert bis 1547 ziellos das Land -- in einer Epoche des revolutionären Umbruchs in politischer, sozialer und religiöser Hinsicht. Auch vor der Inquisition muss er sich wegen seines regen Interesses an den Geheimwissenschaften in Acht nehmen. Es waren diese bedrückenden Lebenserfahrungen, die ab 1555 zu den "Wahren Centurien und Prophetien des Meisters Michel Nostradamus" geronnen -- ein magisches Esperanto aus Französisch, mittelalterlichem Latein und provenzalischem Dialekt. Mit Intuition und Grübelei, astronomischem Kalkül und "feuriger Dichtung" holte der Seher von Salon Bilder von zeichenhaftem Charakter vom Himmel, deren wahre Zukunft in ihrer eigenen Gegenwart lag. Das gilt auch für jenen Quartain, der seinen Mythos begründete. 1. 7. 1559: Heinrich II., König von Frankreich, richtet am Pariser Hof eine Doppelhochzeit für seine Tochter Elisabeth und seine Schwester Margarethe aus. Zu den Feierlichkeiten gehört auch ein Ritterturnier, bei dem Heinrich die Lanze mit einem Hauptmann seiner Leibgarde kreuzt, dem schottischen Grafen von Montgomery, Gabriel de Lorges. Unter Hufgedonner preschen die beiden Pferde mit ihren bewaffneten Reitern die Schranken entlang. Die Lanze des Königs verfehlt ihr Ziel, und Montgomerys Lanze trifft im falschen Winkel auf den Schild des Königs. Sie splittert, rutscht nach oben ab und dringt durch Heinrichs Visier. Zehn Tage später stirbt der König an seinen Wunden. Vier Jahre vor dem tragischen Ereignis hatte Nostradamus im Vers 35 der I. Centurie geschrieben:
Der junge Löwe wird den alten überwinden, auf kriegerischem Feld im Einzelstreit. Im goldenen Käfig wird er ihm die Augen spalten, von zwei Flotten setzt sich eine durch, der Besiegte stirbt einen grausamen Tod.
"Seit dieser prophetischen Glanzleistung war Nostradamus noch zu Lebzeiten der gemachte Hellseher", applaudierte 1981 sogar Der Spiegel in einer Titelgeschichte. Wirklich?
Der berühmte Quartain ist von Zeitgenossen nicht einmal wahrgenommen worden,
behauptet der renommierte französische Historiker Georges Minois. Und das mit guten Gründen: Heinrich II. war 40 Jahre alt, Graf Montgomery mit 29 Jahren unwesentlich jünger. Letzterer war kein König, also mitnichten ein "Löwe". Außerdem spielte sich das Drama nicht "auf kriegerischem Feld" ab, und nirgends ist überliefert, dass Heinrich II. einen auffälligen goldenen Helm oder ein goldenes Visier trug. Im Jahr 1555, als Nostradamus diese Verse schrieb, war vielmehr Heinrich II. der "junge" und Karl V. mit seinem goldenen Helm -- der deutsch-römische Kaiser, der sich mit den Franzosen heftige Kriege lieferte -- der "alte" Löwe. Gemeint hatte Nostradamus also das Gegenteil dessen, was die Interpreten hineinlesen: nämlich, dass sein König Heinrich II. über seinen Erzfeind siegen möge. Tatsache ist, dass Heinrichs Gemahlin Katharina von Medici den provenzalischen Propheten im Sommer des Jahres 1555 an den Königshof St. Germain-en-Laye befahl -- gewiss jedoch nicht, um mit ihm in banger Sorge um das künftige Schicksal ihres Mannes speziell über den Vierzeiler I.,35 zu sprechen. Außerdem erging der Druckauftrag für die "Prophéties" an Macé Bonhomme (Lyon) nachweislich am 30. 4. 1555... es ist davon auszugehen, dass das Buch vor Nostradamus' Reise an den Hof noch gar nicht erschienen war. Die okkultgläubige Florentinerin Katharina von Medici suchte seit frühester Jugend Rat bei Wahrsagern und Zauberern. Sehr beeindruckt scheint sie von Nostradamus nicht gewesen zu sein (wenn sie ihn auch 1564 bei einer Rundreise durch Frankreich noch einmal in Salon aufsuchte und ehrenhalber zum Leibarzt des 14 Jahre alten Königs Karl IX. ernennen wird). Denn der Seher beklagt sich später in einem Brief an einen Freund bitter über das knausrige Honorar von 130 Écus, das kaum die Reisekosten deckte. Immerhin aber war er für das einfache Volk nun der Prophet hoher Herrschaften. Zum endgültigen Triumph für Nostradamus schrieb erst dessen Sohn César die Begegnung mit der Königin und den Unfall des Königs um. Und zwar 1614 in seiner "Historie et Chronique de Provence", also 48 Jahre nach dem Tod des Vaters am 1. 7. 1566. Und seither tritt jedes Jahr aufs Neue ein nächst besserer Deuter an die Öffentlichkeit, der die eklektische Orakelpoesie des Nostadamus überbelichtet. Die "feurige Dame" aus Vers V.,65? Natürlich Marilyn Monroe -- weil sie in dem Film "Manche mögen’s heiß" mitspielte. Der "große Hintern" aus Vers VI.,40? Natürlich Helmut Kohl -- weil er Probleme gerne aussaß. Leicht verständlich also, warum Nostradamus nur falsch interpretiert werden, aber nie irren kann. Und damit unangreifbar bleibt.
All seinen Konkurrenten hatte er das Prinzip voraus, sich nie allzu weit aus seiner prophetischen Deckung hervorzuwagen, sondern sich zu behaupten in einer mit Namen und Scheindaten gesättigten Unklarheit, die alles verraten konnte, aber nichts verriet,
schreibt der Nostradamus-Biograf Frank Rainer Scheck. Zum unsterblichen Mythos um den Renaissance-Himmelsstürmer gehören außerdem: eine Herkunftslegende, an der sein Bruder Jehan und vor allem sein Sohn César strickten und die aus den Großvätern des Nostradamus "Ärzte und Berater" adeliger Herrn machte -- obwohl sie Kaufleute beziehungsweise Steuereintreiber waren. Und nicht zuletzt viele ungelöste Fragen, die sich um sein Leben und Werk ranken:
Nostradamus war eine sehr interessante, humanistisch und universal gebildete Persönlichkeit, der typische Gelehrte seiner Epoche, sowohl dem Studium der antiken Autoren hingegeben als auch bereit, im Experiment die neue Naturforschung zu erkunden,
analysiert Elmar R. Gruber:
In seiner Beschäftigung mit okkulten Dingen und Weissagungen ist er ein Repräsentant jener historischen Schnittstelle, an der das mythische und rationale Denken auseinander fielen. Nostradamus war beiden Welten verpflichtet, und nur unter diesem Gesichtspunkt wird uns sein Werk verständlich.
Und so gibt Nostradamus Rätsel auf, die immer wieder neu gelöst werden können. Zum Beispiel das Mysterium um den "großen Schreckenskönig". Ein UFO, mutmaßte Star-Astrologin Elizabeth Teissier 1999 beim Barte des Propheten. Ein neuer Dschingis Khan aus dem Osten, warnten die Autoren eines "Lexikons der Propheten, Seher, Zukunftsforscher". Tatsächlich reflektiert Nostradamus in Vers X.,72 nur die Hoffnungen und Sehnsüchte des 16. Jahrhunderts: auf das Erscheinen eines großen, gerechten, friedliebenden Monarchen nämlich ("König von Angolmois"), den Nostradamus memorativ beim berühmten Herrscherhaus Angouleme-Valois ansiedelte, welchem auch "sein" König Heinrich II. von Frankreich entstammte. Hinter dem vorher am Himmel auftauchenden "Schreckenskönig" verbirgt sich wenig mehr als die totale Sonnenfinsternis vom 11. 8. 1999, die der astrophile Gelehrte mit den astronomischen Saros-Zyklen berechnen konnte -- und die seinerzeit als bedeutsames Vorzeichen (Omen) umwälzender Ereignisse angesehen wurde. Nostradamus kleiner Fehler ("siebter Monat" statt achter) liegt darin begründet, dass er sich am zu seinen Lebzeiten aktuellen, aber inzwischen beendeten 109. Saros-Zyklus orientierte und diesen hochrechnete; tatsächlich aber gehört die Sonnenfinsternis von 1999 zum 145. Saros-Zyklus, der erst 1639 begann (vgl. die Internetseiten des Astronomischen Institutes der Universität Basel). Das Datum 1999, nahe am dritten Jahrtausend, steht somit rein symbolisch für eine Zeitenwende, die Nostradamus schon zu seinen Lebzeiten erhoffte, aber ganz im Stil seines poetischen Systems des Mehrdeutigen in eine unbestimmte Zukunft projizierte. Oder? Der Nostradamus-Deuter Manfred Dimde ist überzeugt, dass uns der "große Schreckenskönig" noch bevorsteht. Und zwar als Komet, der "unserer Erde gefährlich nahe kommen" werde. Wann das zu erwarten ist? "Um das Jahr 3100". Eine Aussage ganz nach dem Vorbild des großen Meisters.
Literatur (Auswahl)
- Bernhard Bouvier: Nostradamus. Ewert-Verlag, Gran Canaria 1996
- Pierre Brind’Amour: Les premières centuries où propheties (Edition Macé Bonhomme de 1555). Textes littéraires francais. Librairie Droz, Genf 1996
- Pierre Brind’Amour: Nostradamus astrophile: les astres et l’astrologie dans la vie et l’œuvre de Nostradamus. Pr. de l’Univ. d’Ottawa, Ottawa 1993
- Georges Dumézil: Der schwarze Mönch in Varennes. Nostradamische Posse. Insel-Verlag, Frankfurt a.M. 1999
- Elmar R. Gruber: Nostradamus. Sein Leben, sein Werk und die wahre Bedeutung seiner Prophezeiungen. Scherz-Verlag, Bern 2003
- Volker Guiard: Die seltsame Welt des Nostradamus-Deuter Manfred Dimde. In: Michael Shermer/Benno Maidhof-Christig/Lee Traynor (Hresg.): Endzeittaumel. Alibri-Verlag, Aschaffenburg 1998
- Bernd Harder: Nostradamus -- Ein Mythos wird entschlüsselt. Alibri-Verlag, Aschaffenburg 2000
- Günther Klein: Nostradamus -- Gaukler des Himmels. In: Hans-Christian Huf (Hrsg.): Sphinx. Geheimnisse der Geschichte. Lübbe-Verlag, Bergisch-Gladbach 1999
- Carl Graf von Klinckowstroem: Rund um Nostradamus. In: Zeitschrift für kritischen Okkultismus und Grenzfragen des Seelenlebens, Berlin 1927. Nachdruck in der Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie, Jahrgang 26, Nr. 1/2/3/4, 1984, Aurum-Verlag, Freiburg
- Edgar Leoni: Nostradamus and his Prophecies. Random House Value Publishing Inc., New York 1999
- Georges Minois: Geschichte der Zukunft. Artemis&Winkler-Verlag, Düsseldorf/Zürich 1998
- Roger Prévost: Nostradamus – Le mythe et la réalité. Un historien au temps des astrologues. Edition Robert Laffont, Paris 1999
- James Randi: The Mask of Nostradamus. Prometheus Books, Buffalo/New York 1999
- Frank Rainer Scheck: Nostradamus. dtv, München 1999
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 3/2003. Lesen Sie zu den Centurien des Nostradamus auch den Beitrag "Das Prophetenspiel".