In Nürnberg eröffnete der „Turm der Sinne"
Inge Hüsgen
„Eine der bedeutendsten Erfahrungen im Leben eines Menschen ist das Erlebnis, dass wir uns täuschen können", sagt Rainer Rosenzweig, Geschäftsführer des neu eröffneten Erlebnis-Museums „Turm der Sinne" in Nürnberg. Die eigenen Sinne aufs Glatteis zu locken, dabei Spaß zu haben und auch noch zu lernen, das ist die Grundidee des Museums im Mohrenturm, einem Teil der historischen Stadtfestung.
Erste Pläne zu diese Einrichtung gab es bereits 1996, doch erst die Kooperation mit einem finanzkräftigen Sponsor ermöglichte ihre Realisierung. Nach etwa einjährigen Umbauarbeiten konnte das Museum am 15. 3. eröffnet werden. Träger ist die gemeinnützige Turm der Sinne GmbH Erlebnisausstellungen. Ihr Gesellschafter ist der Humanistische Verband Deutschland (HVD) Nürnberg. Bereits in den vergangenen Jahren hat die GmbH mit ihren Projekten für Aufsehen gesorgt: So veranstaltet sie seit 1998 jährliche Symposien, deren Teilnehmer aus dem ganzen Bundesgebiet anreisen. Ihre Zahl steigt kontinuierlich an: Waren es beim ersten Symposium 1998 noch 100 Teilnehmer, konnte sich das Organisatoren-Team im vergangenen Jahr bereits über 390 Besucher freuen. Zu den Referenten gehören renommierte Wissenschaftler von verschiedenen deutschen Hochschulen. Themen waren bisher unter anderem Wahrnehmung, Hirnforschung, Bewusstsein, Intelligenz und Lernen. Für den Herbst 2003 ist das Thema „Gehirn und Emotion" vorgesehen. Auch eine Wanderausstellung des Projektes mit ausgewählten Exponaten zum Thema Sinnestäuschungen erwies sich als erfolgreich. 1998 gewann das Projekt den Innovationspreis der Region Nürnberg in der Kategorie „Kultur", und auf der Ausstellung „Science Street" im Kölner Gürzenich im Herbst 2001 verliehen die Besucher dem Turm der Sinne durch ihre Wahl den 2. Dialogpreis Lebenswissen. Die Nürnberger waren dort in Kooperation mit dem Institut für Augenoptik der Fachhochschule Aalen und dem Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik Tübingen angetreten. Einige der Exponate aus Köln lassen sich auch im neu eröffneten Museum wieder erkennen. Insgesamt ist die Ausstellung jedoch ungleich größer. Sie umfasst 36 Stationen, vom handtellergroßen Objekt bis zur Rauminstallation. Fünf der sechs Stockwerke sind den verschiedenen Sinnen und dem Gehirn gewidmet, während im sechsten Geschoss zusätzlich wissenschaftstheoretische Fragen angeschnitten werden.
Ein schräger Raum
Gleich zu Beginn geraten die Besucher in den skurrilen Ames-Raum: Der Fußboden ist abgeschrägt, überall gibt es schiefe Winkel. Eine Kamera verfolgt die Bewegungen im Raum, sodass die Besucher sich selbst in Echtzeit auf einem Bildschirm erleben können. Dabei machen sie eine zweite, bizarre Entdeckung: Sie erblicken sich selbst in einem gewöhnlichen, rechtwinkligen Zimmer, aber während des Umhergehens sehen sie sich selbst wachsen und schrumpfen. Mit den wenigen Schritten von einer Zimmerecke zur gegenüberliegenden werden sie von Riesen zu Zwergen - und das ohne ausgefeilte Tricks der Kameratechnik. Den gleichen Eindruck haben auch außen stehende Beobachter, die das Geschehen durch ein Guckloch verfolgen. Benannt ist der Ames-Raum nach dem amerikanischen Maler und Psychologen Adelbert Ames jr., der bereits 1946 ein solches Zimmer konstruierte. Was wir beim Blick in den Ames-Raum erleben, verrät viel über die Bedeutung von Erfahrung und Lernen für unsere Wahrnehmung. Denn das typische Zimmer in der westlichen Kultur hat lauter rechtwinklige Ecken. Von Kindheit an lernen wir, welche Bilder solche Räume auf der Netzhaut unserer Augen hinterlassen. Theoretisch gibt es jedoch unendlich viele schiefwinklige Konstruktionen, die - von einer fest definierten Stelle aus mit einem Auge betrachtet - ein ebensolches Netzhautbild erzeugen. Einer davon ist der Ames-Raum im Erdgeschoss des Turm der Sinne. Aber diese Möglichkeiten spielt das Gehirn nicht einmal ansatzweise durch. Ohne dass es uns bewusst wird, entscheidet es sich auf Anhieb für die vertraute Interpretation eines rechtwinkligen Raumes.
„Magische" Klötzchen und eine „ewige" Tonleiter
Aber nicht nur unser Gesichtssinn ist täuschungsanfällig. Davon können sich die Besucher an zahlreichen Exponaten zum Anfassen überzeugen. Die beiden „magischen Klötzchen" zeigen, dass sich auch unsere Gewichtswahrnehmung in die Irre führen lässt. Hebt man zunächst die aufeinander liegenden hölzernen Quader gemeinsam an und greift danach nur zum oberen, kleineren Klotz, so erscheint dieser alleine schwerer als beide zusammen. Das liegt daran, dass die beiden trotz ihrer äußerlichen Ähnlichkeit eine sehr unterschiedliche Dichte besitzen. Der Verrechnungsapparat in unserem Gehirn geht jedoch aufgrund früherer Erfahrungen davon aus, dass ähnlich aussehende Körper auch eine ähnliche Dichte haben. Demnach müsste der kleine Quader leichter sein als der große. Da er in Wirklichkeit aber fast die ganze Masse enthält, empfinden wir diese als übergroß. Unsere Erwartung geht also ganz unbewusst - mit in die Wahrnehmung ein. Die akustische Wahrnehmung können die Besucher bei der „ewigen" Tonleiter aufs Glatteis führen lassen. Wie auf einem Ziffernblatt sind dort Tasten angeordnet, bei deren Druck ein Ton erklingt. Werden sie im Uhrzeigersinn gedrückt, so erscheint jeder Ton höher als sein Vorgänger - sogar, wenn man wieder an der Ausgangstaste angelangt ist. Auch wenn man unendlich oft im Uhrzeigersinn herumgeht, der Ton steigt immer weiter, ein absolut höchster Ton ist nicht zu finden. Was dahinter steckt, verrät die Info-Tafel neben dem Tastenfeld: Die verschiedenen „Töne" sind eigentlich Mehrklänge. Jeder einzelne besteht aus mehreren Frequenzen in jeweils einer Oktave Abstand, dabei werden sowohl die hohen als auch die tiefen Anteile in zunehmendem Maße leiser als die mittleren. Die hohen Töne verschwinden allmählich, während nach und nach weitere tiefe Töne hörbar werden. So entsteht der Eindruck einer ständig ansteigende Tonleiter, die dennoch immer in einer Oktave bleibt. Eine endlos ansteigende Tonleiter kann es zwar gar nicht geben, aber für das Gehirn erklären sich so die Einzelteile der Wahrnehmung am stimmigsten, auch wenn der Gesamteindruck paradox ist. Aber auch ganz grundlegende Wahrnehmungsvorgänge kann der Besucher erleben. So erweist sich das Schmecken in Wahrheit als Zusammenspiel mehrerer Sinne. Ein süßes Fruchtbonbon schmeckt mit zugehaltener Nase nur süß. Erst wenn die Aromastoffe das so genannte Riechepithel in der Nase erreichen, kommen wir in den Genuss des spezifischen Fruchtaromas. Das ist auch der Grund, weshalb uns bei Schnupfen nicht einmal unsere Leibspeise so recht schmecken mag. Die Abteilung „Perspektive" gewährt zunächst einen Blick in die Trickkiste der Zeichner und Maler: Am Beispiel von Georges Seurats impressionistischem Gemälde „Ein Sonntagnachmittag auf der Ile de la Grande Jaffe" (1885) werden darstellerische Möglichkeiten von Perspektiven-Illusion auf einer planen Leinwand erläutert: Größer dargestellte Menschen wirken näher als kleinere, warme Farbtöne verstärken diesen Eindruck von Nähe, während verschwimmende Blau-Nuancen räumliche Distanz vermitteln. Aber auch in diesem Bereich gibt es viel zum Ausprobieren: So erweist sich das simple Einfädeln eines Fadens in ein Nadelöhr als wahre Herausforderung, sofern man nur ein Auge zur Kontrolle benutzen kann. Am eigenen Leib spürt der Besucher, wie wichtig das stereoskopisches Sehen für die Einschätzung der räumlichen Position von Objekten ist.
Forschung und Wahrnehmung
Eindringlich zeigten die Exponate, dass Wahrnehmungen nichts anderes sind als Hypothesen des Gehirns, aufgestellt anhand der Daten, welche die Sinnesorgane liefern. Diese Erkenntnis zieht sich wie ein roter Faden durch die sechs Stockwerke des Museums-Turms. Dabei ist sie noch gar nicht so alt. Noch der amerikanische Psychologe James J. Gibson (1904-1979) nahm an, dass Wahrnehmungen direkt aus der Außenwelt stammen. Sinnestäuschungen deutete er als bloße Fehlfunktionen des Wahrnehmungsapparates. Bei der Erklärung von Sinnestäuschungen ist dieser Ansatz jedoch dem kognitionspsychologischen deutlich unterlegen. Auch die Komplexität der Sehphysiologie lässt sich auf diese Weise viel besser erklären (Gregory 2001). In der Tat sind Sinnestäuschungen für heutige Forscher besonders spannend, stellen sie doch Sonderfälle ansonsten bewährter Wahrnehmungsmechanismen dar. Dass sie bisweilen Schlüsse auf die eigene Erfahrung zulassen, wird beim Ames-Raum deutlich. Andere Wahrnehmungsphänomene lassen sich evolutionär erklären. So wirkt das Foto einer Fußspur im Sand vertraut als Basrelief, wenn das Licht von oben kommt. Wird das Bild umgedreht, sodass sich auch die Beleuchtungsrichtung umkehrt, sehen wir jedoch eine Fußfläche, die sich nach oben aus dem Sand emporwölbt. Offensichtlich nimmt das Gehirn eher diese seltsame Wahrnehmung in Kauf, als eine Beleuchtung von unten anzunehmen. In der Regel liegt es damit auch richtig, denn in unserer natürlichen Umwelt kommt das Sonnenlicht stets von oben. Im Laufe der Evolution hat es sich auch als vorteilhaft erwiesen, bestimmte Stoffe am Geschmack zu erkennen. Dazu gehört Glutamat, eine häufige Aminosäure im Gehirn. Sie ist in natürlichen eiweißreichen Lebensmitteln wie Fisch, Fleisch, Tomaten und Käse enthalten. In der Nahrungsmittel-Industrie wird Glutamat als Geschmacksverstärker eingesetzt. Erst vor kurzem konnten auf der Zunge Sinneszellen entdeckt werden, die auf Glutamat reagieren. Es gibt also einen angenehmen „fünften Geschmack" neben süß, sauer, salzig und bitter. Er wird „umami" genannt, nach dem japanischen „umai" (köstlich). Eingeführt wurde der Begriff schon vor fast einem Jahrhundert von dem japanischen Wissenschaftler Kikunae Ikeda. Er hatte bereits 1909 behauptet, es gebe eine solche Geschmacksrichtung, konnte dies jedoch nicht belegen.
Trotz trügerischer Wahrnehmung zu sicherer Erkenntnis
Wie leicht die Sinne zu täuschen sind, hat der Besucher auf dem bisherigen Weg in den ersten fünf Stockwerken erfahren. Im sechsten Stock wartet ein Ausblick auf wissenschaftstheoretische und philosophische Implikationen dieser Erkenntnis. Mit welchen Mitteln kann der Mensch trotz seines fehleranfälligen Wahrnehmungsapparates zu verlässlichen Aussagen gelangen? „Ausschalten" lassen sich Sinnestäuschungen kaum: Die „magischen Klötzchen" täuschen unsere Gewichtswahrnehmung auch noch, nachdem rational wir ihr Geheimnis durchschaut haben. Darüber hinaus kann uns das Wissen über die Fehlbarkeit unserer Sinne zwar vor naiven Rückschlüssen auf die Welt bewahren - zu sicherer Erkenntnis führt es uns nicht. Einen Ausweg zeigen wiederum Versuche zum Selbermachen: Da sind zum Beispiel die Abbildungen zweier rechteckiger Tischplatten, von denen uns eine mit der kurzen Seite, die andere mit der langen Seite näher ist. Erstere erscheint uns lang und schmal, während die zweite kurz und breit wirkt (Wolf 1999). Wer aber mithilfe einer Schablone nachmisst, stellt fest, dass beide Platten dennoch genau deckungsgleich sind. So lässt sich ein Trugschluss aus einer falsch angewendeten Perspektiven-Deutung korrigieren. Und die Suche nach richtigen Kombinationen aus vier Ziffern führt spielerisch in die Regeln des Experimentierens ein. Jeder Zahl ist eine Taste auf einem Pult zugeordnet. Bei manchen Ziffernkombinationen leuchtet ein grünes Licht auf, bei anderen nicht. Möchte der Besucher das Merkmal aller richtigen Lösungen herausfinden, muss er zum einen notieren, welche Kombinationen bisher erfolgreich waren. War z. B. 2-2-2-2 ein Treffer, könnte man die Hypothese aufstellen, dass auch andere Kombinationen aus gleichen Ziffern Erfolg haben. Erweist sich dann 4-4-4-4 nicht als Lösung, aber 1-2-3-4, so muss man sich eine neue Hypothese ausdenken und testen ... Wer dem Geheimnis der richtigen Zahlenreihe selbst auf die Spur kommen möchte, kann das Erlebnis-Museum Turm der Sinne dienstags bis freitags von 13 bis 17 Uhr besuchen. An diesen Tagen sind die Vormittage für Schulklassen reserviert. Samstags sowie an Sonn- und Feiertagen ist das Museum von 11 bis 17 Uhr geöffnet. Für Fördermitglieder gibt ein regelmäßiges Mitteilungsblatt, das SinnesOrgan, weitere Informationen und Einblicke rund um die Sinne, und auch die Webseiten (www.turmdersinne.de) sollen demnächst einige Täuschungen näher vorstellen.
Anschrift: Turm der Sinne, Mohrenturm, Spittlertormauer 17, 90429 Nürnberg; Eintritt: 6,00 EUR, ermäßigt (Jugendliche unter 18 Jahren und Studierende bis 26 Jahren) 4,00 EUR.
Inge Hüsgen ist Redaktionsleiterin des Skeptiker. Außerdem ist sie Redakteurin des Mitteilungsblattes SinnesOrgan, das vierteljährlich Informationen zum Thema Wahrnehmungen bietet.
Literatur
- Gregory, R. L. (2001): Auge und Gehirn. Psychologie des Sehens. Rowohlt, Reinbek
- Hoffmann, D.D. (2000): Visuelle Intelligenz. Wie die Welt im Kopf entsteht. Klett-Cotta, Stuttgart
- Wolf, R. (1999): Das Elfte Gebot: „Du sollst dich nicht täuschen!" Skeptiker 4/99, S. 140-149
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 1/2003.