von Mario Bunge
Hier guter Skeptizismus, dort schädlicher Dogmatismus? Keineswegs, meint der Wissenschaftsphilosoph Mario Bunge: Radikaler Skeptizismus ist ebenso unvernünftig wie radikaler Dogmatismus; der Wissenschaft ist mit einer gesunden Mischung gedient. Der pragmatische Materialist entwickelt hier Kriterien zur maßvoll-skeptischen Urteilsbildung über neue Ideen.
Skeptiker sind - ähnlich wie Dogmatiker - ein gemischtes Völkchen. Sie stimmen nur hinsichtlich der folgenden fünf Punkte überein:
- Die Regeln der Logik sind zu befolgen;
- Aussagen über Tatsachenfragen bedürfen positiver oder negativer Belege;
- intellektuelle Redlichkeit muss respektiert werden;
- jede(r) hat das Recht auf freie Forschung und offene rationale Diskussion, und
- Irren ist menschlich, d. h. wir müssen das Fehlbarkeitsprinzip, das Prinzip des Fallibilismus, anerkennen.
Abgesehen von diesen Punkten können sich Skeptiker auf jede denkbare Weise unterscheiden. Während z. B. einige der Auffassung sind, es sei sinnvoll, weitere Experimente zu Telepathie, Psychokinese usw. durchzuführen, wird dies von anderen bestritten. Einige Skeptiker sind also toleranter in Bezug auf abweichende Meinungen als andere.
Eine solche Vielfalt ist nicht verwunderlich, da verschiedene Leute auch verschiedener Herkunft sind und unterschiedliche Perspektiven und Zielsetzungen haben. Und sie gereicht der Skeptikerbewegung zur Ehre. Im Übrigen wäre es für letztere selbstmörderisch festzulegen, dass in Bezug auf noch zu erforschende Dinge nur eine Denkrichtung zu tolerieren sei - genauso selbstmörderisch wie zu bestimmen, dass Alchemisten, Astrologen, Kreationisten und Homöopathen den gleichen Anspruch auf Förderung durch Steuergelder haben wie Wissenschaftler. Der konstruktive Skeptiker bringt Eiferern und Scharlatanen genauso wenig Geduld entgegen wie bewussten Hochstaplern: Er oder sie ist viel zu beschäftigt damit, durch sorgfältige Forschung neue Wahrheiten zu gewinnen. Zeit ist schließlich die knappste und kostbarste Ressource.
Dogmatismus und Skeptizismus sind graduell
Jeder, der naiv genug ist, nie etwas zu bezweifeln, verdient es, als Dogmatiker bezeichnet zu werden. Doch Dogmatismus ist eine Sache des Grades, der Abstufung. Neben dem totalen oder systematischen Dogmatismus gibt es den partiellen (oder taktischen bzw. methodologischen) Dogmatismus. Jede vernünftige Person ist partiell dogmatisch, weil niemand die nötige Geduld, Kompetenz, Ressourcen und Zeit hat, um jede Idee, die einem begegnet, selbst zu überprüfen. Beispielsweise würde niemand, der bei Verstand ist, bezweifeln, dass zwei plus zwei vier ergibt, dass Menschen essen müssen, um zu überleben, oder dass Handlungen Folgen haben, weshalb wir nachdenken sollten, bevor wir handeln.
Nun ist partieller Dogmatismus natürlich dasselbe wie partieller Skeptizismus. Wie jener kann auch Skeptizismus radikal (total, systematisch) oder gemäßigt (taktisch, methodologisch) sein. Jede vernünftige Person ist partiell skeptisch, weil das Leben lehrt, dass wir Fehler machen können. Es lehrt uns aber auch, dass wir es zu einiger Erkenntnis gebracht haben - z. B. dass es so etwas wie Photonen, Atome, Gene und Galaxien gibt; dass einige Infektionen von Bakterien, andere von Viren hervorgerufen werden; und dass sich extremer Egoismus langfristig nicht auszahlt.
»Es wäre für die Skeptikerbewegung selbstmörderisch festzulegen, dass in Bezug auf noch zu erforschende Dinge nur eine Denkrichtung zu tolerieren sei.«
Ein paar historische Beispiele mögen den Unterschied zwischen radikalem und gemäßigtem Skeptizismus illustrieren. In der Antike waren Pyrrhon und Sextus Empiricus radikale Skeptiker, denn sie behaupteten, nichts könne mit Gewissheit erkannt werden. Zu Beginn der Neuzeit folgten ihnen Francisco Sanches und Michel de Montaigne, doch gestanden diese zu (vielleicht nur, um ihre Haut zu retten), dass einige Wahrheiten durch Offenbarung und Glauben erkannt werden können. Demgegenüber benutzten Sokrates und Descartes Zweifel nur als Mittel, um zu dem zu gelangen, was sie unter sicherer Erkenntnis verstanden. Ihr Skeptizismus war demzufolge nur ein taktischer: Zweifel war nur der erste Schritt auf ihrer Suche nach Wahrheit. Dies ist auch der Grund, weshalb sie im Gegensatz zu Pyrrhon und Sanches wenigstens einige Wahrheiten erkannten.
Es ist kein Zufall, dass alle Skeptiker Empiristen gewesen sind, d. h. sie haben sich stets mehr auf die Erfahrung als auf die Vernunft verlassen - doch dabei paradoxerweise die Macht dieser Erfahrung bezweifelt. Der Grund dafür besteht darin, dass unumstößliche Beweise nur in den Formalwissenschaften wie der Mathematik zu haben sind, vorausgesetzt man hat vorher die Ausgangsannahmen und die Schlussregeln festgesetzt. Im Bereich der (konkreten) Tatsachen, den faktischen Wissenschaften, müssen wir uns mit Plausibilität bzw. partieller Wahrheit zufrieden geben. Entsprechend sind die Aussagen der Physik, Chemie, Biologie, Sozialwissenschaft und Technologie nicht beweisbar. Wir halten sie (in einem bestimmten Ausmaße) für wahr, weil sie vielfach von empirischen Daten bestätigt worden sind und weil sie mit anderen Aussagen in derselben oder in benachbarten Disziplinen in Zusammenhang stehen. Doch wir sind bereit, eine jede von ihnen zu korrigieren oder gar aufzugeben, wenn wir mit negativen Belegen konfrontiert werden, seien es Gegenbeispiele oder bessere alternative Theorien. Kurzum: Skeptizismus ist Bestandteil von faktischer Wissenschaft und Technologie. Was noch zu beantworten bleibt, ist die Frage, ob dieser Skeptizismus ein radikaler oder ein gemäßigter ist.
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Mario Bunge geb. 1919, Frothingham Professor of Logic and Metaphysics an der Foundations & Philosophy of Science Unit der McGill University, Montreal. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Artikel zu philosophischen und wissenschaftstheoretischen Fragen. Sein Hauptwerk ist der achtbändige Treatise on Basic Philosophy (1974-1989). Auf Deutsch sind von ihm erschienen: Epistemologie (1983), Das Leib-Seele-Problem (1984), Kausalität - Geschichte und Probleme (1987) und Philosophie der Psychologie (1990, mit R. Ardila). Anschrift: Dept. of Philosophy, McGill University, Leacock Building, 855 Sherbrooke St. W., Montreal, Quebec, Canada, H3A2T7 |
Nun können zwei Arten von Aussagen bejaht oder verneint werden: partikuläre oder allgemeine. Dabei ist „Individuum b hat die Eigenschaft P" eine partikuläre Aussage, während „Alle Individuen der Art B haben die Eigenschaft P" eine allgemeine ist. Empirische Daten gehören zu den partikulären Aussagen, wissenschaftliche Gesetzesaussagen zu den allgemeinen. Empiristen sind mehr am Einzelnen interessiert als am Allgemeinen, während Rationalisten mehr an allgemeinen Prinzipien interessiert sind als an Daten. Wissenschaftler und Technologen hingegen sind sowohl am Einzelnen als auch am Allgemeinen interessiert. Untersuchen sie doch bestimmte Einzeldinge in der Hoffnung, Muster zu entdecken, und sie überprüfen vermutete Muster anhand von Daten. Daher verhalten sie sich, ob sie es wissen oder nicht, als „Ratioempiristen" (oder „Empiriorationalisten") und nicht als reine Empiristen oder Rationalisten.
Hume, Kant und Popper haben zwar empirischen Daten vertraut, sie waren aber radikale Skeptiker im Hinblick auf allgemeine Hypothesen. So glaubte Hume, das Leib-Seele-Problem werde nie gelöst werden, und Kant, die Psychologie werde sich nie zu einer Wissenschaft entwickeln. Obwohl Popper nicht die Existenz der Außenwelt bezweifelt hat, hielt er wissenschaftliche Gesetzesaussagen besten falls für bislang nicht falsifizierte Vermutungen. Gleichzeitig setzte er sich für eine vulgäre Auffassung des Leib-Seele-Problems ein, nämlich den psychoneuralen Interaktionismus, und hielt die Existenz außersinnlicher Wahrnehmung für möglich. Er war daher ein Empirist, auch wenn er sich selbst als kritischen Rationalisten bezeichnete, und er hat seine eigene methodologische Anweisung, immer die kühnsten Hypothesen vorzuschlagen, selbst nicht praktiziert. Die Postmodernisten schließlich sind totale Skeptiker in Bezug auf die Wissenschaft - von der sie nichts verstehen. Andererseits bezweifeln sie nie ihre eigenen Ansichten. So behaupten sie selbstbewusst - jedoch ohne Belege -, es gebe keine objektive Wahrheit. Zudem versichern sie uns, dass das, was als Suche nach Wahrheit angesehen wird, eigentlich nichts anderes sei als das Aufstellen schriftlicher Behauptungen und das Austragen von Macht- bzw. Verhandlungsspielen zwischen Konkurrenten.
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Descartes' Zweifel war ein Mittel zum Zweck:ein Erkenntnisansatz, der ihn zu Wahrheiten führte. |
Was sagt die gegenwärtige Wissenschaft dazu? Ist sie radikal oder gemäßigt skeptisch? Und wie effektiv kann Skeptizismus beiderlei Art in der Bekämpfung von Aberglaube und Dogmatismus sein? Wir wenden uns nun diesen Fragen zu, jedoch auf eine rein logische bzw. philosophische Art. Wir werden also nicht den empirischen Fragen nachgehen, wie hoch der Grad an Skeptizismus einzelner Wissenschaftler tatsächlich ist, oder wie effektiv skeptische Kampagnen gegen gegenwärtigen Unfug wie Psychoanalyse, (philosophische) Hermeneutik oder die allgemeine Theorie des wirtschaftlichen Gleichgewichts sind. All diese Tatsachenfragen sind interessant und wichtig, aber sie gehören in die Psychologie und Soziologie des Wissens (und der Ignoranz), nicht in die Philosophie.
Ist alles möglich?
Obwohl Skeptizismus eine erkenntnistheoretische Auffassung ist, gründet sie doch in einer bestimmten Sichtweise über die Natur der Welt, d. h. in einer ontologischen These. Dies ist die These, dass alles möglich ist. Wäre tatsächlich alles möglich, so könnte keine Hypothese, und sei sie noch so unplauisibel,verworfen werden. Mit anderen Worten: Wenn wirklich alles möglich wäre, dann wären alle Hypothesen gleichermaßen plausibel (oder unplausibel). Kürzer: Es gäbe keine Abstufungen von Plausibilität (oder Implausibilität).
»Das nenne ich das Paradoxon des Skeptikers: Jeder, der radikal und konsequent skeptisch ist, muss im Endeffekt genauso leichtgläubig sein wie der naive Dogmatiker, weil er keine Argumente abwägen kann, da ihm nichts als unmöglich gilt.«
Radikale Skeptiker müssten z. B. von der Möglichkeit ausgehen, dass sich Rühreier wieder „entrühren", dass man telepathische Signale empfangen, mit den Toten kommunizieren oder durch eine homöopathische Lösung geheilt werden kann. Radikale Skeptiker müssten all diese Möglichkeiten zulassen, weil sie nicht an Naturgesetze glauben. In der Tat könnte, wenn alles möglich wäre, kein Naturgesetz auch nur irgendetwas verbieten.
Es gibt einen weiteren Grund, weshalb radikale Skeptiker bereit sind zu glauben, dass selbst die vertrauenswürdigsten wissenschaftlichen Gesetze verwundbar sind. Sie glauben nämlich, dass alle derartigen Gesetze bloße induktive Verallgemeinerungen sind, d. h. Verallgemeinerungen aus empirischen Daten - und alles empirische Wissen ist bekanntlich begrenzt und fehlbar. (Man denke an Humes Auffassung, wonach Gesetze reine Gewohnheiten seien.) Das ist aber nicht das, was Wissenschaftler unter Gesetzesaussagen verstehen: Sie unterscheiden zwischen bloßen empirischen Verallgemeinerungen (z. B. „Alle Raben sind schwarz") und Verallgemeinerungen, die in eine Theorie, in ein Aussagensystem, eingebettet sind (z. B. „Alle Photonen sind masselos"). Solche Verallgemeinerungen werden nämlich im Gegensatz zu isolierten empirischen Verallgemeinerungen nicht nur von den relevanten Daten gestützt, sondern zusätzlich durch die anderen Aussagen im System, mit denen sie verbunden sind.
»Jede vernünftige Person ist partiell dogmatisch, weil niemand die nötige Geduld, Kompetenz, Ressourcen und Zeit hat, um jede Idee, die einem begegnet, selbst zu überprüfen.«
Wissenschaft und Technologie dulden deshalb nicht alles, was vorstellbar ist, weil in ihrem Mittelpunkt Gesetze stehen, und Gesetze schränken den Bereich des denkbar Möglichen ein. Beispielsweise können Schweine nicht (eigenständig) fliegen, weil sie keine Flügel haben. Wir brauchen also nicht einfach nur lange genug zu warten, um zu sehen, ob sich nicht doch einmal ein Schwein durch das Schlagen seiner Beine in die Lüfte erhebt. Genauso wenig ist es nötig, auch nur ein weiteres parapsychologisches Experiment durchzuführen, um zu prüfen, ob nicht ein außergewöhnliches Medium endlich mentale Botschaften senden oder empfangen kann: Wir wissen nämlich aus der Psychobiologie, dass Denken kein Gegenstand ist, sondern ein Gehirnprozess, und als solcher ist er genauso wenig übertragbar wie Verdauung. Ebenso sinnlos wäre es, ein Raumschiff zu bauen, um auf der Sonne zu landen, denn alle Festkörper schmelzen notwendigerweise, wenn sie in die Korona gelangen.
Wissenschaft und Technologie setzen also ihr Urteil über das Paranormale keineswegs aus. Sie haben gute Gründe, bestimmte denkbare Tatsachen zurückzuweisen. Diese Gründe bestehen in wohl bestätigten Theorien, die recht solide Gesetzesaussagen enthalten. Zum Beispiel wird ein Patentamt einen neuerlichen Entwurf für ein Perpetuum mobile nicht einmal mehr prüfen, weil ein solches mit dem Prinzip des Energieerhalts unverträglich ist. Dasselbe Argument genügt auch, um Psychokinese auszuschließen: Sie würde ebenfalls den Satz vom Erhalt von Energie und Drehimpuls verletzen. Genauso wenig besteht Bedarf, weitere klinische Tests mit homöopathischen Pseudoheilmitteln durchzuführen: Diese können allenfalls als Placebos wirken, weil eine homöopathische Dosis bestenfalls ein einziges Molekül der aktiven Substanz enthält; und ein einzelnes Molekül kann keinen ganzen Organismus heilen. Und die neuere Behauptung, wonach Wasser ein Gedächtnis für bestimmte Wirkungen habe, ist im Lichte der Chemie des Wassers unplausibel.
Skeptiker haben also keine Verpflichtung, sich derartigen Zeitverschwendungen hinzugeben. Radikale Skeptiker sind notwendigerweise demütig, weil sie sich nichts sicher sind. Moderate Skeptiker sollten zwar bescheiden, aber nicht demütig sein: Obwohl sie ihre eigenen Grenzen eingestehen sollten, sollten sie doch darauf vertrauen, dass der wissenschaftliche Ansatz der richtige ist, wenn auch nicht jeder wissenschaftliche Befund sicher ist. Natürlich sollten sie auch bereit sein, die gelegentliche Anomalie zu untersuchen, aber nur im Rahmen ihrer Bürgerpflicht, die Öffentlichkeit zu bilden und sie davor zu bewahren anzunehmen, eine solche Anomalie untergrabe gleich die normale Wissenschaft.
Nicht alle Vermutungen sind gleich plausibel
Wenn bestimmte angebliche Tatsachen unmöglich sind, dann sind die entsprechenden Hypothesen, Methoden oder sogar Daten völlig unplausibel. Wie ermessen wir die Plausibilität neuer Hypothesen, Methoden oder Daten? Indem wir sie mit dem relevanten Hintergrundwissen vergleichen. In der Tat ist alles, was irgendwie plausibel sein kann, nur in Bezug auf einen bestimmten Kenntnisstand plausibel. So ist die Hypothese von der Existenz von Gravitationswellen, die bislang nicht gefunden wurden, im Lichte der allgemeinen Relativitätstheorie plausibel. Demgegenüber ist die Hypothese, dass man die Anzeige eines Messgerätes allein durch den Willen beeinflussen kann, sowohl mit der Physik als auch mit der kognitiven Neurowissenschaft unvereinbar.
Wenn sich etwas Neues nicht in das System unseres Hintergrundwissens einfügen lässt, gibt es zwei Möglichkeiten: Es steht in Konflikt mit allgemein gültigen Grundprinzipien oder nicht. Im ersteren Falle verwerfen wir es oder schieben es zumindest hinten an. Nur im zweiten Falle, d. h. wenn das Neue nur einen kleineren Teil des Systems unseres Wissens herausfordert, werden wir uns des Urteils enthalten oder neue Forschungen anregen oder durchführen.
Vernünftiger Zweifel ist also immer relativ, d. h. er ist abhängig von einem Bestand an Vorwissen. Tatsächlich können wir nur etwas im Lichte von etwas anderem bezweifeln, das zumindest vorübergehend als wahr oder gültig angesehen wird. So ist die Hypothese, wonach alles begriffliche Wissen gelernt ist viel plausibler als die Idee von angeborenen Ideen. Woher wissen wir das? Weil (a) die DNS weder groß noch komplex genug ist, um Ideen zu codieren - die darüber hinaus ganzer Systeme von Neuronen bedürfen, und (b) die kognitive Neurowissenschaft zeigt, dass Ideen in Gehirnen entstehen und Gehirne bei der Geburt so wenig entwickelt sind, dass sie keine begrifflichen Objekte denken können.
»Wissenschaft und Technologie dulden deshalb nicht alles, was vorstellbar ist, weil in ihrem Mittelpunkt Gesetze stehen, und Gesetze schränken den Bereich des denkbar Möglichen ein.«
Aus diesen Gründen sind einige Vermutungen plausibler als andere, und einige ältere Erkenntnisse sind in unser Wissen so fest eingebettet, dass es närrisch wäre, sie ohne guten Grund in Frage zu stellen. Zum Beispiel hat niemand Anlass dazu, die Existenz von Elektronen sowie die Tatsache, dass sie durch Diracs Theorie in sehr guter Näherung beschrieben werden, zu bezweifeln. Des weiteren wird niemand vernünftigerweise bezweifeln können, dass Unterernährung die geistige Entwicklung hemmt, dass zu viel Fernsehkonsum Fettleibigkeit und Passivität fördert, dass die Kriminalitätsrate mit der Arbeitslosenrate steigt, dass politische Instabilität Investitionen bremst oder dass die Konzentration von Wohlstand auf Wenige demokratiegefährdend ist.
Wir haben es aber nicht nur mit mehr oder weniger plausiblen Vermutungen zu tun, sondern auch mit mehr oder weniger wahrscheinlichen Tatsachen. Einige Ereignisse sind in der Tat wahrscheinlicher als andere und treten daher häufiger auf als andere. Die entsprechenden Voraussagen sind somit auch nicht in gleichem Maße plausibel. Da Erdbeben und Börsenzusammenbrüche eher selten sind, sind Vorhersagen wie „San Francisco wird morgen von einem Erdbeben erschüttert" oder „Die New Yorker Börse wird morgen zusammenbrechen" wenig plausibel. Sie sind aber nicht völlig unplausibel, und angesichts der enormen zu erwartenden Verluste sollten wir sie auch nicht völlig ignorieren.
Plausibilität und Wahrscheinlichkeit: Unterschied und Beziehung
Man beachte den Unterschied zwischen der Wahrscheinlichkeit einer Tatsache und der Plausibilität einer Hypothese. Während Tatsachen unabhängig davon geschehen, ob wir sie kennen oder nicht, sind Hypothesen (d. h. Vermutungen über Tatsachen) kontextabhängig, und zwar in dem Sinne, dass ihre Bedeutung und Wahrheit auf unserem Wissen beruhen. Während es z. B. wahrscheinlich ist, dass ein Placebo irgendeinen Effekt hat, sind einige der Hypothesen über den Placebo-Mechanismus plausibler oder weniger plausibel als andere.
Man beachte ferner, dass ich nicht den verbreiteten Ausdruck „Wahrscheinlichkeit einer Hypothese" verwende, weil er genauso wenig sinnvoll ist wie „Temperatur einer Hypothese". Eine Wahrscheinlichkeit kann man nur zufälligen Ereignissen zuschreiben, und Hypothesen sind keine solchen. Zudem ist „Wahrscheinlichkeit" ein quantitativer Begriff, während „Plausibilität" (zumindest bislang) qualitativ ist.
Allerdings können Wahrscheinlichkeit und Plausibilität miteinander in Beziehung stehen, und zwar folgendermaßen: Es seien E1 und E2 zwei zufällige Ereignisse derselben Art, und H1 und H2 die entsprechenden Hypothesen über das Eintreten dieser Ereignisse. Dann ist H1 genau dann plausibler als H2, wenn E1 wahrscheinlicher ist als E2.
Plausibilität muss des weiteren unterschieden werden von Glaubhaftigkeit, von Vertrautheit und von Wahrheit. „Plausibilitat" ist ein erkenntnistheoretischer Begriff, „Glaubhaftigkeit" und „Vertrautheit" sind psychologische Begriffe, und „Wahrheit" ist eine semantischer Begriff. (Aussage X ist plausibel im Lichte der Erkenntnisse Y. Aussage X ist glaubhaft für Person Y. Aussage X stimmt mit den Gefühlen, den Intuitionen, von Person Y überein. Aussage X ist [exakt oder näherungsweise] wahr im Lichte der Belege Y.) Der Laie mag wissenschaftlich implausible Theorien glauben und wissenschaftlich plausible nicht. Daher ist auch Kontraintuitivität kein Kennzeichen des Unwahren in Mathematik, Naturwissenschaft und Technologie.
Begriff | Bezugsobjekt | Status |
Wahrscheinlichkeit | Tatsachen (Zustände und Ereignisse) | ontologisch |
Plausibilität | Ideen (Aussagen, Methoden usw.) | erkenntnistheoretisch |
Glaubhaftigkeit | Tatsachen oder Ideen | psychologisch |
Wahrheit | Daten, Hypothesen, Theorien | semantisch |
Tab. 1: Eine Differenzierungshilfe: Was einleuchtend oder glaubhaft ist, ist keineswegs unbedingt wahr, und auch Unwahrscheinliches kann wahr werden. |
Aus dem bislang Gesagten können wir folgende Lehren ziehen.
- Unglaubhaftigkeit ist kein Argument gegen Wahrheit.
- Plausibilität regt Tests zur Bestimmung des Wahrheitsgrades von Hypothesen an.
- Unplausible Ideen können (zumindest bis auf Weiteres) getrost ignoriert werden.
- Nur Aussagen, die Tests zur Bestimmung ihres Wahrheitsgrades überstanden haben, verdienen es, geglaubt zu werden.
- Nur Methoden und Artefakte, die Tests ihrer Wirksamkeit und ihres Wirksamkeitsgrades bestanden haben, sollten Verwendung finden.
Die obige Tabelle stellt noch einmal die vier besprochenen Begriffe einander gegenüber.
Man erwartet von Wissenschaftlern, dass sie ihre Befunde rechtfertigen, seien es Daten, Hypothesen, Theorien oder Methoden. Es genügt nie, nur darauf hinzuweisen, dass etwas bislang noch nicht falsifiziert oder als ungültig nachgewiesen worden ist: Dieser Hinweis taugt nur für Forschungsprojekte. Aber auch ein Forschungsprojekt wird nicht finanziert werden, wenn es nicht durch frühere Befunde gerechtfertigt werden kann. Zum Beispiel wird weder ein Projekt zur Erforschung von Leben im Mittelpunkt der Erde noch eines zur Erforschung von Emotionen außerhalb des Gehirns einen Geldgeber finden, mit Ausnahme vielleicht einer privaten Stiftung, die sich auf die Förderung verrückter Ideen spezialisiert hat.
Echte wissenschaftliche Befunde werden durch neue Argumente (z. B. Berechnungen) oder empirische Daten (z. B. Messungen) gestützt. Freilich mag weitere Forschung erweisen, dass die Bestätigung schwach oder gar illusorisch war. Doch wir brauchen wenigstens eine vorläufige Stützung, eine Anfangsplausibilität, um die Forschung zu motivieren und zu fördern, die dazu führen kann, die Ausgangsidee zu unterminieren. Diese Regel ist für jeden praktizierenden Wissenschaftler offensichtlich. Radikale Skeptiker akzeptieren sie aber nicht, weil sie das Prinzip der Rechtfertigung ablehnen: Sie sind zwar bereit, Gründe gegen etwas zu akzeptieren, nicht aber Gründe für etwas.
Fassen wir zusammen. Nicht alle wissenschaftlichen Befunde sind gleichermaßen schlüssig oder zweifelhaft: Einige sind plausibler als andere. Bestimmte Gründe und bestimmte empirische Daten sind zwingender als andere. Zudem ist nichts intrinsisch oder absolut plausibel oder unplausibel. Mit anderen Worten: Nichts kann in einem „Vakuum" vernünftig bezweifelt werden. Jedes Mal, wenn etwas vernünftig bezweifelt wird, dann geschieht dies im Vergleich mit einem Maßstab. X ist zweifelhaft im Lichte von Y, das mit X unverträglich ist und von dem man weiß oder annimmt, dass es wahr ist.
Das skeptische Paradoxon
Folgendes nenne ich das Paradoxon des Skeptikers: Jeder, der radikal und konsequent skeptisch ist, muss im Endeffekt genauso leichtgläubig sein wie der naive Dogmatiker, weil er keine Argumente abwägen kann, da ihm nichts als unmöglich gilt.
Wenn sich z. B. jemand des Urteils über die Möglichkeit von Telepathie enthält, wird er parapsychologische Forschung dulden. Wenn er sich des Urteils über die Effizienz von Homöopathie enthält, mag er sie ausprobieren, falls er von der wissenschaftlichen Medizin enttäuscht ist. Und wenn sich jemand des Urteils über die Möglichkeit, einen kreativem Computer zu bauen, enthält, kann er bei der Förderung solcher Projekte bankrott gehen.
Wie sollten dann das Übernatürliche und das Paranormale behandelt werden? Radikale Skeptiker und Empiristen werden vermutlich beide antworten: Mehr empirische Belege sammeln und uns mittlerweile eines Urteils enthalten. Sie müssen sich eines Urteils in dieser Sache enthalten, weil ihnen ein ausdrückliches wissenschaftliches Weltbild fehlt. Sie können es sich nicht leisten, feste Ansichten in diesen Dingen zu haben, genauso wie Leute, die nicht zählen können, erst recht nicht addieren können und wie der Laie nicht sagen kann, ob es Bose-Kondensate, spontanes Feuern von Neuronen, staatenlose Gesellschaften oder preis-inelastische Waren gibt.
Jeder, der über ein wissenschaftliches Weltbild verfügt, wird kaum auf neue Argumente oder neue empirische Belege für das „Gespenstische" warten und Forschung auf diesen Gebieten als Zeitverschwendung betrachten. Es gibt keine wissenschaftlichen Belege für das Übernatürliche oder das Paranormale, denn wenn beides nachweisbar wäre, wäre es natürlich bzw. materiell anstatt übernatürlich oder paranormal. Die Annahme, dass es sich dabei um Immaterielles handelt, garantiert dessen Unprüfbarkeit.
Zweitens kann es keine solchen Belege geben. Niemand kann z. B. in die Hölle fahren und sich dann zurückmelden: Eine solche Reise verläuft ex hypothesi auf einer Einbahnstraße. Was körperlose Ideen angeht, können solche gemäß der biologischen Psychologie nicht existieren: Alle Ideen existieren in den Köpfen von Personen. Woher wissen wir, dass das richtig ist? Dank wissenschaftlicher Verfahren wie der elektrischen und chemischen Reizung der Hirnrinde und Alltagsgeschehnissen wie Narkose oder Drogenrausch.
Ist diese Auffassung dogmatisch und so ein Forschungshindernis? Überhaupt nicht. Sie hält nur von grundlosem Glauben und verfehlter Forschung ab. Sie regt dazu an, sich um die Rechtfertigung der Hypothesen zu kümmern, die getestet werden sollen. Sie bewahrt uns davor, unsere Zeit mit isolierten Vermutungen zu verschwenden, die mit dem meisten, was wir wissen, unvereinbar sind. Und sie ruft uns dazu auf, Hypothesen in Aussagensysteme (hypothetiko-deduktive Systeme oder Theorien) einzubauen, die auf die vielfältigste Weise mit empirischen Daten in Beziehung stehen können.
Der vernünftige Skeptiker enthält sich nur so lange seines Urteils, wie das betreffende Problem weitere Forschung erfordert, weil die vorhandenen Belege dafür oder dagegen unschlüssig sind. Wenn jedoch die betreffende Hypothese nicht nur theoretisch plausibel ist, sondern sich auch starker empirischer Bestätigung erfreut, wird sie der Forscher als (zumindest näherungsweise) wahr betrachten und sich einer anderen Fragestellung zuwenden.
Forscher können es sich nicht leisten, sich ständig in einem Zustand von Urteilslosigkeit zu befinden, genauso wenig wie es wünschenswert wäre, sich in einem Zustand der Leblosigkeit zu befinden. Die Suche nach Wahrheit setzt voraus, dass Wahrheit - und sei sie nur approximativ - auch erreichbar ist.
Schluss
So wie eine „geschlossene Geisteshaltung" für neue Erkenntnisse undurchdringbar ist, so ist eine völlig offene Geisteshaltung grundloser Fantasterei und Aberglauben ausgesetzt. Eine gute wissenschaftliche Geisteshaltung ist porös: Sie lässt neue Vermutungen und Methoden durch, sofern diese plausibel sind, filtert aber vollkommen unplausible aus. Wissenschaftler und Technologen sollen also skeptisch sein, doch nur auf gemäßigte Weise. Radikaler Skeptizismus ist bestenfalls steril und schlimmstenfalls destruktiv. Ein fruchtbarer Skeptizismus ist ein gemäßigter, weil jeder vernünftige Zweifel auf einem Grund beruht, der im Zuge des Zweifeins selbst unbezweifelt bleibt, weil er sich als begrifflich oder praktisch wertvoll erwiesen hat.
Die praktischen Folgerungen für Skeptiker sind die folgenden: Sie sollten neuen Ideen gegenüber tolerant sein, vorausgesetzt sie sind prinzipiell überprüfbar und wenigstens minimal plausibel. Auch sollten sie bereit sein, mit Leuten jenseits der Grenzen der Wissenschaft in Dialog zu treten. Solche Dialoge können jedoch nur dann fruchtbar sein, wenn sich die andere Seite an die Regeln des rationalen Diskurses hält. Doch ich fürchte, alles, was wir vernünftigerweise von einem derartigen Dialog erwarten können, ist die Umstimmung vereinzelter Anhänger der anderen Seite. Wir können nur wenig, wenn überhaupt etwas, von grundloser Spekulation und Manipulation lernen. Wir wissen, dass die Logik und die wissenschaftliche Methode überlegen sind, und wir können einen eindrucksvollen Katalog robuster Befunde vorlegen, an den kein Bereich illusorischen Wissens heranreicht.
(Übersetzung: Martin Mahner. Dieser Artikel erscheint mit freundlicher Genehmigung von Prometheus Books als Vorabdruck in gekürzter und überarbeiteter Form aus M. Bunge: „ Crisis and Reconstruction in Philosophy", im Druck.)
Der Artikel erschien im "Skeptiker" 1/2000.