Sigmund Freud gehört zweifelsohne zu den bedeutendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Sein Einfluss strahlt bis heute in viele Bereiche der Gesellschaft wie Kunst, Psychologie und Literatur aus. Begriffe wie Freudsche Fehlleistung, Verdrängung, Über-Ich und Ödipuskomplex haben sich im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert. Die deutschen Krankenkassen übernehmen die Kosten für psychoanalytische Therapien. Auch die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung sollen Freuds Annahmen bestätigt haben (Lakotta 2005). Was ist von der Psychoanalyse zu halten?
Freuds Annahmen wurden von seinen überzeugten Schülern zunächst kaum in Frage gestellt, ernstzunehmende Kritik an zentralen Punkten trat innerhalb der Szene erst nach seinem Tod (1939) auf. Moderne Psychoanalytiker haben Freuds Theorie weiterentwickelt und sich dabei von einigen Grundannahmen wie dem Penisneid und dem Aggressionstrieb klar distanziert. Insofern weichen moderne Psychoanalyse-Formen von Freuds Theorie ab. Dennoch haben die Psychoanalyse und die meisten tiefenpsychologischen Verfahren die gleiche theoretische Grundlage. Vorausgesetzt wird, dass frühere, unbewusste Konflikte von zentraler Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung sind und deren Aufdeckung therapeutisch wichtig ist. Doch diese und zahlreiche andere Hypothesen werden seit Jahrzehnten stark kritisiert. Psychoanalyseanhänger konnten die gewichtigsten Kritikpunkte bisher nicht überzeugend entkräften. Nur auf argumentativen "Nebenkriegsschauplätzen" gelang es ihnen, Schwachpunkte der Freud-Kritik aufzuzeigen (Köhler 1996 und 2016).
Seit den 1970er Jahren nahm die Kritik an Freud zu (Eysenck 1985, Sulloway 1982, Webster 1995, Crews 1998). Dies ist sicherlich auch darauf zurückzuführen,dass sich Freuds Anhängerschaft nach ihrer teuren und aufwändigen Ausbildung als elitärer Kreis verstand, der sich trotz der fehlenden Evidenz der Psychoanalyse im Besitz einer Art Geheimwissens glaubte. Doch auch bei Nicht-Psychoanalytikern steht die Psychoanalyse hoch im Kurs: Der Bonner Psychologe Rolf Degen (2000) schrieb dazu "Besonders bei geisteswissenschaftlich orientierten Intellektuellen und im Feuilleton gilt die Psychoanalyse immer noch als eine Insignie der höheren Denkungsart (...), und dies trägt sicherlich auch dazu bei, dass die Psychoanalyse weiterhin so bekannt ist, obwohl die moderne Psychologie mit ihr nur wenig anfangen kann".
Freud betrachtete die Psychoanalyse ursprünglich als Naturwissenschaft. Im Laufe der Zeit kam es jedoch zu einer "hermeneutischen Wende". Je mehr empirische Fakten gegen die Annahmen der Psychoanalyse sprachen, desto stärker wandelte sich diese zu einer Art "Verstehenskunst". Die bedeutendsten Vertreter der psychoanalytischen Hermeneutik sind keine Psychologen oder Ärzte, sondern Philosophen (Beispiel: Jürgen Habermas), denen die empirische Prüfung der Aussagen der Psychoanalyse nicht relevant erschien. Eine rein hermeneutische Betrachtung der Psychoanalyse wird ihr indes nicht gerecht, denn sie macht als wissenschaftliche Theorie zahlreiche empirisch überprüfbare Aussagen. Eine wissenschaftliche Theorie muss grundsätzlich widerlegbar sein, sie muss ferner so angelegt sein, dass sich widersprechende Tatsachen festgestellt werden können. Wenn sie jedoch grundsätzlich Methoden anwendet, die eine mögliche Selbsttäuschung nicht erkennbar machen, dann sind große Bedenken anzumelden.
Inzwischen ist wohl jeder relevante Aspekt der Psychoanalyse zum Thema heftiger Debatten geworden. Eine zentrale Kritik besagt, dass die klassische Psychoanalyse aus methodischen Gründen nicht als empirische Wissenschaft akzeptiert werden kann, da ihre suggestive Wirkung in der Therapiesituation selbsterfüllende Prophezeiungen produziere. Akzeptiert der Patient die Deutung, wertet der Therapeut dies als Bestätigung. Widerspricht er ihr, sucht der Therapeut nach unbewussten Widerständen gegen die Interpretation und fühlt sich gleichfalls bestätigt. Dies führt zu dem Vorwurf der theoretischen und methodischen Immunisierung gegen Kritik. Ein weiterer Kritikpunkt besteht in der Tatsache, dass die psychoanalytische Persönlichkeitserklärung auf Erinnerungen an Kindheitserlebnisse beruht, denn diese bilden keine objektiv wahren Ereignisse ab. Sie werden, wie andere Erinnerungen auch, fortlaufend neu konstruiert, sodass das Erinnerte in manchen Fällen erheblich vom wirklich Geschehenen abweicht (Asendorpf 2004). Die Psychologin Elizabeth Loftus belegte eindrucksvoll, wie Erinnerungen erzeugt werden können. Kritik erfolgte auch an der therapeutischen Praxis der Psychoanalyse, die zu langwierig und teuer sei, während der Nutzen nicht überzeugend belegt sei. Doch auch die Kritik an Freuds Fallgeschichten erschütterte die Psychoanalyseszene. Als Beispiel sei der bekannte Fall des Wolfsmannes genannt, der angeblich von Freud geheilt wurde[1]
Zum Weiterlesen
Im Folgenden stellen wir eine Auswahl kritischer Bücher zum Weiterlesen vor. Dieser Beitrag dient dazu einen ersten Überblick über die Kritik an Freud zu liefern und wichtige Quellen aufzuführen. Ausführliche Literaturempfehlungen finden Sie in den aufgeführten Werken.
Ein bedeutender Kritiker der Psychoanalyse ist der Amerikaner Frederick Crews, emeritierter Professor für englische Literaturwissenschaft. Er sorgte mit zwei Aufsätzen Mitte der 1990er Jahre für Beachtung auch außerhalb der Psychoanalysezunft, da seine Freud-Kritik in der New York Review of Books erschien, deren Leser der Psychoanalyse sehr zugeneigt sind. 2017 veröffentliche Crews eine spannende Biographie "Freud - The Making of an Illusion", in dem er vor allem den jungen Freud behandelt und liefert den letzten Sargnagel in der fulminanten Kritik an Freud.
Besonderes Aufsehen erregte, dass er Freud Unaufrichtigkeit und Feigheit vorwarf (Horgan 2000). Frederic Crews hat 1998 in englischer Sprache ein Sammelwerk veröffentlicht, in dem 18 Experten, darunter Frank Sulloway und Frank Cioffi, in ihren Essays Freuds menschliche und wissenschaftliche Schwächen aufzeigen. Crews, F. (Hrsg, 1998): The unauthorized Freud - Doubters Confront a Legend. Viking Adult, New York.
Den hermeneutisch orientierten Anhängern der Psychoanalyse sei insbesondere die Kritik von Grünbaum empfohlen. Demnach stellt die Psychoanalyse kausale Hypothesen auf, die prinzipiell wahr oder nicht wahr sein können und somit grundsätzlich überprüfbar sind. Grünbaum, A. (1988): Die Grundlagen der Psychoanalyse - Eine philosophische Kritik, Stuttgart.
Frank Sulloway schreibt in seinem bereits 1979 erschienen Buch, dass wesentliche Teile von Freuds Theorie schon 1895 von anderen Autoren publiziert wurden und dass seine Theorien - im Gegensatz zu Freuds Behauptung - in der Fachwelt eher positiv bis wohlwollend aufgenommen wurden. Sulloways Werk wurde besonders deshalb vielfach beachtet, weil der Autor durch seine akribische Forschung einen wichtigen Beitrag zur Entmystifizierung Freuds leistete. Sulloway, F. J. (1982): Freud - Biologe der Seele. Jenseits der psychoanalytischen Legende. Köln-Lövenich.
1986 veröffentlichte der Wissenschaftsjournalist Dieter E. Zimmer, Redakteur der Wochenzeitung DIE ZEIT, das Buch "Tiefenschwindel". Der besonders für Laien sehr informative Band kritisiert zentrale Punkte der Psychoanalyse. In den Auflagen ab 1990 kommentiert Zimmer auch Reaktionen auf die Veröffentlichung. Zimmer, D. E. (1986): Tiefenschwindel - Die endlose und die beendbare Psychoanalyse. Rowohlt, Reinbek.
Greve und Roos (1996) beschäftigen sich mit dem Ödipuskomplex, der als zentrales Modell der Psychoanalyse gilt. Die Autoren, die auch eine eigene Untersuchung an Kindern durchführten, diskutieren die bestehenden Forschungsergebnisse kritisch. Ihr Fazit ist eindeutig: Der Ödipuskomplex als psychoanalytische Entwicklungstheorie gehört nicht in die Lehrbücher der Entwicklungspsychologie, sondern in Darstellungen der Psychologiegeschichte. Greve, W.; Roos, J. (1996): Der Untergang des Ödipuskomplexes - Argumente gegen einen Mythos. Huber, Bern.
Wer sich für die Frage interessiert, wie Freud zur Psychoanalyse gekommen ist, dem sei Han Israels' Buch "Der Fall Freud" empfohlen. Der Autor vertritt darin die These, dass es sich bei drei zentralen Aspekten aus den Anfängen der Psychoanalyse um Mythen handelt, die Freud selbst in die Welt gesetzt hat. Han Israels thematisiert die so genannte Kokain-Episode, den Fall der Anna O. und die Verführungstheorie. Israels, H. (1999): Der Fall Freud - Die Geburt der Psychoanalyse aus der Lüge. Europäische Verlags-Anstalt, Hamburg. Noch schärfer und umfassender setzt sich Han Israels in "Der Wiener Quacksalber" mit der Person Freud auseinander. Israels, H. (2006). Der Wiener Quacksalber. Bussert & Stadeler.
Literatur:
- Asendorpf, Jens (2004): Psychologie der Persönlichkeit. Springer Berlin sowie Franz J. Neyer/Jens B. Asendorpf (2018): Psychologie der Persönlichkeit, Springer, Berlin, Heidelberg
- Crews, Frederick (1998): Unauthorized Freud - Doubters Confront a Legend, New York.(Ausgabe von Mai 2000)
- Crews, Frederick (2017): Freud - The Making of an Illusion. London.
- Degen, Rolf (2000): Lexikon der Psycho-Irrtümerm. Warum der Mensch sich nicht therapieren, erziehen und beeinflussen lässt. Frankfurt a.M.
- Derksen, Anthony (2001): The Seven Strategies of the Sophisticated Pseudo-Scientist: a look into Freud's rhetorical tool box. In: Journal for General Philosophy of Science volume 32, pages 329–350
- Eschenröder, Christof T. (1984): Hier irrte Freud. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie und Praxis. München.
- Eysenck, H. J. (1985): Niedergang und Ende der Psychoanalyse. München.
- Greve, W.; Roos, J. (1996): Der Untergang des Ödipuskomplexes - Argumente gegen einen Mythos. Huber, Bern.
- Grünbaum, A. (1988): Die Grundlagen der Psychoanalyse - Eine philosophische Kritik. Stuttgart.
- Holtschke, Bianca; Bölke, Timm (2022): Ein skeptischer Blick auf die Psychoanalyse. In: Skeptiker Heft 2/2022, S. 59ff.
- Horgan, John (1997): Die Aktualität der Psychoanalyse. In: Spektrum der Wissenschaft, S. 62 - 67.
- Horgan, John (2000): Der menschliche Geist - Wie die Wissenschaften versuchen, die Psyche zu verstehen. München.
- Israels, H. (2006). Der Wiener Quacksalber. Bussert & Stadeler.
- Köhler, Thomas (1996): Anti-Freud-Literatur von ihren Anfängen bis heute - Zur wissenschaftlichen Fundierung von Psychoanalyse-Kritik. Stuttgart.
- Köhler, Thomas (2016): Freud-Bashing - Vom Wert und Unwert der Anti-Freud-Literatur. Gießen.
- Lakotta, B. (2005): Die Natur der Seele. In: Der Spiegel, 16, S. 176 - 189.
- Loftus, Elizabeth F.; Ketcham, Katherina (1994): The Myth of Repressed Memory : False Memories and Allegations of Sexual Abuse
- Onfray, M. (2013): Anti Freud
- Pohlen, M.; Bautz-Holzherr, M. (2002): Psychoanalyse - Das Ende einer Deutungsmacht. Reinbek.
- Selg, Herbert (2002): Sigmund Freud - Genie oder Scharlatan? Eine kritische Einführung in Leben und Werk. Stuttgart
- Sulloway, Frank (1982): Freud - Biologe der Seele. Jenseits der psychoanalytischen Legende, Köln.
- van het Reve, Karel (1994): Dr. Freud und Sherlock Holmes, Frankfurt
- Webster, Richard (2005): Why Freud was Wrong. Sin, Science and Psychoanalysis.Orwell Press; Auflage: 3Rev Ed (September 2005) London.
- Witkowski, Tomasz; Maciej Zatonski (2015): Psychoanalysis: Castle built on sand. In: Psychology Gone Wrong - The Dark Sides of Science and Therapy, p. 109 - 122.
- Zimmer, D. E. (1986): Tiefenschwindel - Die endlose und die beendbare Psychoanalyse. Rowohlt, Reinbek.
Linktipps:
- Psiram: Psychoanalyse
- Freud als Pseudowissenschaftler
- Wirkfaktoren in der Psychotherapie (Dr. Robert Mestel) Skepkon 2014
- Video: Against Freud: John Horgan & Frederic Crews
- Psychology and Psychotherapy: How Much Is Evidence-Based? (2015)
- Internationales Netzwerk der Freud-Kritiker
- Dieter Zimmer (1982): Der Aberglaube des Jahrhunderts. In Zeit Dossier
- Skeptics Dictionary: Falsche Erinnerungen (False Memory Syndrome)
- Andrea Schuhmacher: Das betrogene Ich. In ZeitWissen
- Skeptics Dictionary: Psychoanalyse
- Psychoanalysekritik 1
- Psychoanalysekritik 2
- Verschiedene kritische Artikel über Freud von Udo Leuschner
- Stern-Gespräch: Kritik an Psychoanalyse
- Psychoanalysis: Science or Pseudoscience? Examining the status of Freudian theory by Anna Järvinen
- Grünbaums Kritik an Freud: Psychoanalysis: Is it Science?
- Dieter Zimmer Tiefenschwindel
- Kritische Arbeiten zur Psychoanalyse und Analytischen Psychotherapie