Die fünf »Tibeter«
Ulrich Dehn
Seit vielen Jahren steht das Buch mit diesem Titel aus der Feder eines mysteriösen „Peter Kelder" auf der Bestsellerliste. Mutmaßlich 1939 unter dem Titel „The Eye of Revelation" erstmalig in den USA erschienen, 1985 neu aufgelegt und seit 1989 auf Deutsch im Integral-Verlag erhältlich, gehört es zu den bekanntesten esoterischen Büchern überhaupt.
Die Rahmenhandlung bezieht sich auf die Idee eines lamaistischen Klosters in der Einsamkeit des Himalaya aus der 1933 erschienenen Shangrila-Geschichte „Lost Horizon" von James Hilton, die auch in Hollywood verfilmt wurde. Bei Kelder firmiert dieses Kloster als positiv besetzte „Quelle der Jugend"; bei Hilton wurde es nicht nur positiv erlebt und veranlasst die zwei Protagonisten, Mitglieder einer britisch-amerikanischen, angeblich bruchgelandeten, in Wirklichkeit entführten Flugzeugbesatzung, schließlich zur Flucht: Nur einer von beiden hatte die erlösende Botschaft der Lamas geglaubt und sich außerdem in eine jung gebliebene Klosterinsassin verliebt, die nach dem Verlassen des Klosters in ihr Originalalter hinein vergreiste und starb.
Zentrale Figur des Textes „Das alte Geheimnis der ,Quelle der Jugend‘", des Hauptbestandteils des vorliegenden Kelder-Buchs, ist Colonel Bradford, der das geheimnisvolle Kloster in den Hochtälern des Himalaya aufsucht, um dort das Rezept der Verjüngung zu finden. Anschließend teilt er seine Erfahrungen dem Ich-Erzähler („Peter Kelder") mit. Er wird zum lebenden Beispiel für die Wirkung der fünf „Riten": Eigentlich knapp 73, sieht er nun, nach erfolgreicher Anwendung der fünf „Tibeter" (plus 1), aus wie ein 40-Jähriger. In Vorworten wird der weltanschauliche Hintergrund geklärt: Die universale Energie, die durch den Körper fließt, soll wieder umfassend genutzt werden und in Harmonie und im Gleichgewicht den Körper beleben. Dadurch wird das „Todeshormon" blockiert und die Hormonerzeugung des endokrinen Systems normalisiert. Wachstumshormone werden nach der Neutralisierung des „Todeshormons" endlich wieder nutzbar. Auch die Kirlian-Photographie, die in der Lage ist, die Aura des elektromagnetischen Feldes aufzuzeichnen, kann zum Nachweis der universalen Energie benutzt werden (S. 8 f). Die fünf „Tibeter" (Colonel Bradford spricht lieber von „Riten") arbeiten mit den Chakras, „kraftvollen elektrischen Feldern", die man sich wie sieben Wirbel vorstellen muss. Jedes dieser sieben Chakras hat einen Bezug zu einer der „sieben Hormondrüsen im endokrinen System" des Körpers. Die Anordnung der Chakras im Körper entlang der Wirbelsäule entspricht der in der esoterisch-yogischen Welt üblichen vom Genitalbereich bis zum Scheitel. Die Zuordnung von unten nach oben: Keimdrüsen, Nebennieren, Bauchspeicheldrüse, Thymusdrüse, Schilddrüse, Hypophyse, Zirbeldrüse. Die Wirbel drehen sich mit hoher Geschwindigkeit und schleudern die universale Energie nach oben, verlangsamtes Drehen lässt die Energie absinken. „Normales Drehen" ist das Ziel der „Riten" (S. 27-29).
Der ideologische Hintergrund entspricht im Wesentlichen dem der Ki-Bewegungen (Reiki, Qi Gong, T'ai Chi u. a.), die „Riten" selbst jedoch, die nun auf ca. 40 Seiten beschrieben und kommentiert werden, passen sich nicht dem Image der langsam dahinfließenden Übungen aus dem chinesischen Bereich ein.
- So strapaziert die erste Übung das Balancegefühl des Übenden erheblich, indem er sich möglichst schnell mit ausgebreiteten Armen im Uhrzeigersinn um sich selbst drehen soll, bis ihm leicht schwindelig wird. Die Übung erinnert nicht zufällig an die tanzenden Derwische.
- Die zweite Übung findet im flachen Liegen auf dem Rücken statt: Die Beine werden zum Rumpf gebeugt, bei gutem Training auch ohne Anwinkelung der Knie.
- Zur dritten Übung kniet der Praktizierende mit aufrechtem Körper und aufgestellten Zehen; er drückt das Kinn auf die Brust und lehnt schließlich Kopf und Nacken nach hinten unter gleichzeitigem Durchdrücken des Kreuzes, um schließlich wieder in die Ausgangshaltung zurückzukehren.
- Zur vierten Übung sitzt der Übende mit ausgestreckten Beinen aufrecht auf dem Boden, die Hände flach neben dem Gesäß aufgestützt. Er drückt erst das Kinn auf die Brust, legt den Kopf dann zurück und hebt langsam den Körper, bis er ein Parallelogramm mit dem Boden bildet: Rumpf und Oberschenkel parallel zum Boden, Arme und Unterschenkel senkrecht parallel zueinander. Er kehrt wieder in die Sitzhaltung zurück.
- Für die fünfte Übung begibt sich der Übende in die Liegestützhaltung; er drückt den Körper mit geraden Beinen nach oben durch zu einer umgekehrten V-Gestalt.
Auch auf die Atmung sei zu achten: In der Regel Einatmen bei Beginn einer Übung und Ausatmen bei der Rückkehr in die Ausgangshaltung. Jede Übung soll täglich 21-mal hintereinander durchgeführt werden. Schließlich verrät Colonel Bradford noch einen sechsten Ritus für Menschen mit einem überschüssigen Sexualtrieb, der für die Aktivierung der Chakras sublimiert werden könne. Der Ritus: Aus der aufrechten Haltung heraus beugt der Übende sich unter Ausatmen der Luft langsam nach vorne, legt die Hände auf die Knie, kehrt wieder in die Ausgangshaltung zurück und hebt mit den Händen in den Hüften die Schultern nach oben. Diesen Zustand behält er solange bei, bis er wieder Luft einatmen muss. Hier warnt der Colonel: Wer seinen Sexualtrieb lieber konventionell ausleben möchte, sollte auf diese Übung verzichten, es gehe nur eines von beiden, sexuelle Lust oder erfolgreicher sechster Ritus. Die Herausgeber schalten sich hier mit der Anmerkung ein, dass der Colonel in den dreißiger Jahren als ein Kind seiner Zeit die Unvereinbarkeit sexueller Lust und „wahrer" Spiritualität vertreten habe. Das sähen sie ja jetzt anders. Beides könne in zeitlicher Verschiebung zueinander praktiziert werden (S. 56). - Ein Kapitel Geschichte des Verhältnisses Esoterik und Sexualität? Oder ein Versuch, die Historizität der Kelder-Geschichte zu untermauern? Abschnitte zu Ernährung und zur „Energie der Stimme" runden den Hauptteil ab, auch von der Gründung des ersten „Himalaya-Clubs" erfährt der Leser, und von zahlreichen Menschen, die Erfahrungen mit den fünf „Tibetern" gemacht haben. Hier sind in die folgenden Auflagen Ausschnitte aus dem Nachfolgeband „Erfahrungen mit den Fünf ,Tibetern‘" (1991) aufgenommen worden, der 22 Beiträge von aus der esoterischen Szene stammenden Autorinnen und Autoren enthält - die „Erfahrungen" sind denn auch ausschließlich positiv. Die sehr einfachen Übungen, die im Unterschied zu den Bewegungsabläufen von Qi Gong oder T'ai Chi schnell angeeignet werden können, sind, zumal bei kompetenter Anleitung, sicherlich nicht schädlich und können Muskulatur und Organismus stärken. Dass sie dies nur unter Einhaltung der Zahl 21 bewirken und gar zu ewiger Jugend führen, gehört vermutlich ebenso in das Reich der Mythen wie das besagte Kloster „Quelle der Jugend" (oder Shangrila im Hilton-Roman).